laut.de-Biographie
Daoko
Hip Hop ist ein Genre der Mutation. Und ein paar der Mutationen sind weiter weg als andere. Zeig einem Grandmaster Flash Conway The Machine, und er erfährt zufriedene großväterliche Gefühle. Zeig ihm eine Daoko, und du wirst Fragen beantworten müssen. Eine ganze Menge Fragen.
Erstmal: Ja, Rapmusik hat sich bis nach Japan ausgebreitet (theoretisch war Japan sogar eins der ersten Länder, die auf den Zug wirklich mit aufgesprungen sind) – und hat da sogar noch viele, viele Äste hervorgebracht. Auch da gibt es eine Fraktion für die großväterlichen Gefühle: Was bei uns Curse und Savas sind, das wären da Nitro Microphone Underground oder Shing02. Aber genau wie hier Charaktere wie Marteria, Cro, Alligatoah oder Kummer von klassischen Rap-Erblinien weggegangen sind, überschreiten Rap-Artists auch in Japan Genregrenzen.
Daoko wird mit sechzehn ein Rapstar, ohne überhaupt Rap zu hören. Eigentlich ist ihr Name nur ein Spitzname in einem Internetforum, in dem sie ihre ersten musikalischen Gehversuche unternimmt. Wir schreiben das Jahr 2012, und Niconico ist ein Hotspot für Internet-Musikkultur in Japan: Idol-Pop, die letzten Ausläufer von Visual-Kei, die extrem bizarre Vocaloid-Szene: Alles geht steil und setzt intensiv auf Fan-Content. Wer da gut mitmischen kann, kann schnell nach oben aufsteigen.
Genau das passiert, so dass etabliertere Artists wie m-flo auf sie aufmerksam werden, sie darf Soundtrack-Arbeit machen und ihr ersten Album "Hyper Girl" auf den Markt bringen. Wohlgemerkt ist sie an diesem Punkt gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Rap ist an diesem Punkt noch gar nicht wirklich das Kernprogramm ihrer Musik, aber genauso, wie Idol-Musik den Sprechgesang recht intuitiv in die eigene Musik einbaut, versucht es auch Daoko: Und es gelingt.
An diesem Punkt ist sie gesignt und im Kommen und wird mancherorts als begabt im Rappen gesehen. Zeit, sich in diese Kunstform zumindest ein bisschen einzuarbeiten. Aber während sie an ihrem unorthodoxen Flow arbeitet, landet sie ihren ersten großen Hit mit der Vocal-Zuarbeit für einen Vocaloid-Track namens "Me! Me! Me!" des Produzenten TeddyLoid: Es ist quasi das "Swimming Pools (Drank)" für Otaku-Freaks: Ein Track gegen die Sache, der von den Fans als Hymne dafür missverstanden wird.
Awkward, aber wen juckts, immerhin geht die Spur gerade nach oben, sie macht 2015 ihr letztes Album für Low High Who? und schließt sich darauf dem Label Toy Factory an. "Thank You Blue" entpuppt sich 2017 als so etwas wie ihr Signatur-Album, es knackt fast die Top Ten und gibt ihr die größte Single ihrer Karriere in Form einer Ballade mit Kenshi Yonezu (ja, das ist der Typ, der das Intro für Chainsaw Man gemacht hat). Fast geht das Album in die Top Ten, was für ihre Größenordnung und Weirdness gar nicht so schlecht ist.
Und wer denkt, ihre Arbeit ist hier schon weird, der hat noch gar nichts gesehen. 2020 markiert sie ihre komplette Abkehr von allen kommerziellen Ambitionen mit einem polarisierenden Album namens "Anima": Da kombiniert sie ihre artsy Rapper-Instinkte mit extrem kryptischen, verkopften Math Rock-Rhythmen und EDM-Ideen: Es ist quasi eine Reaktion auf das Fahrwasser ihrer bisherigen Wege, ein Genre-Schmelztigel, wie er aus keiner anderen Konstellation so entstehen würde.
Ein Fanmagnet ist das alles an diesem Punkt natürlich nicht mehr, aber Daoko macht weiter wie gehabt: Sie gründet mit ihrer Tour-Band eine offizielle Band namens QUBIT, spielt mit der ein Album ein, macht weiterhin ihre Gigs im asiatischen Raum und bleibt musikalisch eine strange, aber faszinierende kleine Insel. Diesen Status untermauert sie 2024, als sie mit "Slash-&-Burn" ein weiteres Album in dieser Sparte veröffentlicht.
Also: Hat Grandmaster Flash jetzt großväterliche Gefühle, wenn er sich die Musik von Daoko anhört? Ach, auch Opa Herb, egal, wie oft er im Krieg war, muss irgendwelche großväterlichen Gefühle empfinden, auch, wenn er nicht ganz rafft, wie aus seinem Erbe eine Gamerin mit bunten Haaren geworden ist. Das ist, was Familie ausmacht, oder nicht? Daoko ist nur eine von vielen Ableitungen der Ableitungsfunktion des Grunderbguts von Rap. Und es wird spannend bleiben zu sehen, wo dieses Erbgut hinführen kann.
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