6. August 2020

"Wir sind wie kämpfende alte Frauen"

Interview geführt von

In ihrem 53. Dienstjahr melden sich Deep Purple mit dem Album "Whoosh!" zurück – und zeigen sich, gemeinsam mit ihrem Produzenten Bob Ezrin, in Experimentierlaune.

Einer, der einen ganz entscheidenden Anteil am langen Bestehen von Deep Purple hat, ist Gitarrist Steve Morse. Morse stieß 1994 zur Band, nachdem Gründungsmitglied Ritchie Blackmore ausgestiegen war. Kurzzeitig war damals Joe Satriani eingesprungen, entschied sich dann aber doch für seine Solo-Karriere. Mit Morse stieß schließlich ein technisch extrem versierter und unter Kollegen sehr geschätzter Instrumentalist zur Band, der für die Band wie eine Frischzellenkur wirkte.

Also baten wir Steve Morse zum Gespräch über die Entstehungsgeschichte von "Whoosh!", die Dynamik von Deep Purple, sein besonderes Verhältnis zum Produzenten Bob Ezrin und vieles mehr.

Mr. Morse, was haben Sie in den letzten Wochen so gemacht?

Nun, ich habe schnell gemerkt, dass ich nie beschäftigter war. Seit ich aufgehört habe, ein regelmäßiges Einkommen zu haben, ist es Wahnsinn, wie voll mein Kalender ist. Weil ich so viele Dinge in den letzten 26, fast 27 Jahren, seit ich bei Deep Purple bin, eben viele Dinge hinten angestellt habe. Ich habe Dinge gemacht, zu denen ich nie Zeit hatte. Meine Frau und ich sind viel mit dem Auto gefahren. Normalerweise war es so, dass ich in der wenigen Zeit zuhause mich immer beeilen musste, alltägliche Dinge fertig zu kriegen. Jetzt herrscht eine andere Geschwindigkeit und das ist eine interessante Sache.

Haben Sie sich ausschließlich auf den Alltag konzentriert oder auch an Musik gearbeitet?

Beides. Ich stehe spät auf und gehe spät schlafen – so habe Zeit für mich alleine, wenn alle anderen schlafen. Dann arbeite ich an Musik.

2017 hatten viele Fans die Befürchtung, dass Deep Purple aufhören würden. Dass die Tournee "The Long Goodbye Tour" hieß, machte die Sache nicht besser. Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, die Band ist mit dem Longplayer "Whoosh!" zurück. Wie kam es dazu?

Die Sache mit Deep Purple ist: Nichts ist geplant, alles basiert darauf, wie sich alle fühlen. Und irgendwann fühlten sich alle eben danach. Wir müssen "The Long Goodbye Tour" also wirklich in "The Endless Goodbye Tour" umbenennen. Die Jungs von Deep Purple sind Aliens von einem anderen Planeten, aber eben in Menschenform. Sie sehen wie wir aus, aber sind nicht wie wir. Sie werden nie müde. Ich glaube, es wird noch ein paar hundert Jahre so weitergehen. Solange die Musik gut ist, bin ich dabei. Aber ich möchte nicht einer von den Musikern sein, die zu lange bleiben. Das macht mir Sorgen. Aber so weit, so gut – jeder hat die Energie, die Liebe zur Musik und die Erfahrung. Denke an Richter, oder an König Salomon, an Weise, die Ratschläge erteilen: Manchmal braucht es das Alter. Ich glaube, für das Schreiben von Musik ist das eine tolle Ressource, kombiniert hunderte Jahre Erfahrung zu haben.

Wie läuft das bei Deep Purple: Wer ruft wen an? Wer entscheidet, wer stößt an, dass es weitergeht?

Das Formalste, wie wir es manchmal angehen, ist via E-Mail, aber normalerweise entsteht alles im direkten Gespräch miteinander. Manchmal haben wir auch ein kleines Bandmeeting auf Tour. Jeder weiß, was der andere denkt, wir haben keine großen Geheimnisse voreinander. Die englische Art, Dinge zu tun, ist es, formal zu sein – zumindest ab und zu mal. Wenn's also mal eine größere Änderung gibt, gibt es Meetings, wo jeder für oder gegen etwas stimmen kann. In einer Band möchte man aber nicht der Typ sein, der etwas stoppt – man möchte die Welle der Energie mitreiten.

"Spar dir das für dein Solo-Album, Morse"

Wie lief die Produktion ab?

Wir fahren oft zum Schreiben nach Deutschland, in eine Kleinstadt, die eine Soundstage hat. Unser Production Manager, Lothar, ist deutsch, er schlug diesen Ort vor. Wir gehen dorthin, schreiben, ganz alleine. Es ist eine Kleinstadt, es gibt nicht viel dort. Keine Ablenkung. Niemand kennt uns dort. Wir tauschen dort viele Ideen aus. Dann gab es diesmal eine weitere Writing Session in Nashville. Bob Ezrin kam regelmäßig dazu und kommentierte unsere Ideen. Bob Ezrin ist unser Produzent und ein integraler Teil unserer Alben geworden. Er löst Probleme: Welcher Weg ist besser besser? Welche Idee sollten wir weiterverfolgen? Er bekommt eine Extra-Stimme in unserer Band. Er kommt von außen, um sich das anzuhören, und geht dann wieder. Er hat also frische Ohren. Bob ist ein smarter Typ, der sich gut mit Musik und Arrangement auskennt. Anschließend gingen wir ins Studio und nahmen alle gemeinsam auf. Auch Ian, der noch keine Texte hatte. Er hat einfach am Mikrofon etwas improvisiert. Das Hauptziel ist, dass wir den Feel, das Framework des Songs hinkriegen. Das geht immer mit allem so – und wir nehmen immer mehr Songs auf, als dann aufs Album kommen. Ein oder zwei Songs davon kommen dann auf irgendwelche obskuren Boxsets. Dann spielt jeder seine Overdubs und Soli ein. Es ist cool, wenn du schon im Original-Take mit den Drums eine gute Idee hast. Manchmal hat man die auch, aber dann möchte Bob doch etwas am Sound ändern.

Wie ist der Entstehungsprozess Ihrer Soli?

Ich folge dem, was Bob mir vorschlägt. Er legt viel Wert darauf, mich anders klingen zu lassen, als ich es normalerweise tue. Mein Spiel soll den Song bereichern, es soll nicht so oder so klingen, nur weil das stilistisch für mich am einfachsten zu spielen ist. Er ist sehr gut darin, Melodisches zu erkennen und die Dinge melodisch zu halten. Das mag ich. Ein Solo sollte etwas einprägsames sein. Nach den Overdubs macht er die Rough Mixes und bittet alle um Anmerkungen. Er hört sich alle Kommentare an, außer meine. Okay, das ist ein Witz – aber es fühlt sich so an, als würde er sich meine Anmerkungen nicht anhören, wenn es um den Mix geht. (lacht)

Was passt Ihnen denn nicht am Mix?

Anstatt die Gitarre im Mix zu begraben und dann beim Solo lauter werden zu lassen, hätte ich gerne, dass die Gitarre gleich laut ist.

Ist die ganze Band dabei, wenn Sie an ihren Soli arbeiten?

Manchmal sind sie tatsächlich dabei – und sie lachen über die Art und Weise, wie Bob und ich miteinander umgehen. Wir scherzen rum, kommentieren das, was der andere sagt. Wie zwei alte, miteinander kämpfende Frauen. "Komm schon Bob, das war doch ein guter Take" – "Spar dir das für dein Solo-Album, Morse. Spiel zur Abwechslung was, was zum Song passt".

Wie sieht die Auswahl der Gitarren aus? Bringen Sie ihr ganzes Equipment mit oder spielen Sie auch mal, was im Studio rumsteht?

Ich bringe ein paar Gitarren mit, mein Music Man Steve Morse Model mit vier Pickups und die Y2D mit den 3 Pickups, die noch rockiger klingt. Auf einigen Songs spiele ich Bobs Bariton-Gitarre. Er hat viele Gitarren und besteht gelegentlich darauf, dass ich seine Gitarren spiele. Er lebt in Nashville und deswegen glaube ich, dass er für diese Gitarren viel zu viel bezahlt. Das muss er irgendwie rechtfertigen, deswegen muss ich auf ihnen spielen.

Und in Sachen Amps?

Bei den Overdub-Sessions habe ich einen seiner Amps genutzt - aber er explodierte und brach zusammen. Aus irgendeinem Grund glaubt Bob aber, ich bin schuld. Wenn ich mich hinsetze, die Knöpfe genau nach Bobs Anweisungen drehe und der Amp dann explodiert - dann scheint das doch so, als wäre es nicht meine Schuld. Ich glaube, er verbindet meine Person mit Verstärkerreperaturen – deswegen benutze meistens ich meine Engl-Amps. Eine deutsche Verstärkerfirma, ihre Amps klingen sehr fett, aber clean – sogar mit Distortion kratzen sie nicht und sind angenehm anzuhören.

Klingt danach, als hätten Bob und Sie ein gutes Verhältnis?

Ja, das haben wir! Aber kurz zurück zum Gitarrenthema: Beim Solo von "Man Alive", dieses langsame, melodische Solo, das bin ich auf einer Bariton. Die Saiten waren sehr dick und schwer zu benden. Man hört aber nicht, dass eine Bariton-Gitarre ist, weil ich das ganze Solo lang Artificial Harmonics spiele. Ich versuchte viele verschiedene Dinge. Die Gitarre zwang mich dazu, einfacher zu spielen, so, wie es der Song verlangte.

"Die physischen Barrieren sind zerschmettert worden"

Lassen Sie uns über das Arrangement von "Man Alive" sprechen – das ist ja äußert vielschichtig und orchestral.

Das haben wir zunächst live bei den Proben ausgearbeitet. Als es ums Aufnehmen ging, wollte Bob, dass Don [Airey, Keyboarder, Anm.] mehrere Synth-Layers einspielt, die Gitarren wurden in den Hintergrund gedrängt. Bob hatte diesen symphonischeren Approach eingebracht.

Es gibt in Sachen Artwork und Videos ja diese kohärente Ästhetik: Der Astronaut, das Weltall, das Weite, das Verlassene.

Das passt schon gut zum Titel: Wir haben alle zwischen 55 und 60 Jahren Musik auf dem Buckel, jeder von uns. Das ist eine lange Zeit. Aber gemessen an dem, wie lange es den Planeten schon gibt, ist das der Bruchteil einer Sekunde. Wir sind uns bewusst, wie fragil und vergänglich alles ist. Aber Musik ist die universale Sprache, die in irgendeiner Form alles überdauern könnte. Wir sind wie der Astronaut, wir beginnen, zu verschwinden. Unsere Zeit ist kurz, also sollte wir etwas tun. Wir sollten viele Dinge tun, Dinge, die bleiben werden. Vielleicht sogar einen Unterschied bewirken

Als Sie Mitte 1994 zur Band stießen, haben Sie Deep Purple neues Leben eingehaucht. Was würden Sie sagen, war das Wichtigste, dass Sie damals eingebracht haben?

Nun, zwischen dem ersten Kennenlernen und dem ersten Gig lagen bei uns ja genau 24 Stunden. Aber als ich mich wohl genug fühlte, merkte ich gleich mal an, dass die Setlists für jemanden aus Amerika nicht zu erkennen seien. Sie sagten: "Nun, wir spielen meist in Europa, das hat sich eben so entwickelt". Daraufhin fragte ich: "Könnten wir vielleicht auch mal Stücke spielen, die ich schon von Deep Purple gehört habe?" Ich begann also die lang angelegte Kampagne, die Setlist ein wenig zu verändern. Und irgendwann haben wir dann "Hush" gespielt – eigentlich ja ein Cover-Tune, aber ein Song, der mich als junger Musiker zu Deep Purple gebracht hat. Das war das eine. Das andere: Ich weiß wie es ist, in bereits bestehende Bands zu kommen und von der Öffentlichkeit als jemand gesehen zu werden, der einen anderen ersetzen soll. Das war auch schon bei Kansas so. Es geht darum, Respekt zu zeigen, wenn ich Ritchies Gitarrenparts spiele. Aber gleichzeitig möchte ich ihnen auch eigenes Leben einhauchen. Es soll mir ja auch Spaß machen und keine reine Pflichterfüllung sein. Ich möchte niemals zu dem Punkt kommen, wo ich auf der Bühne ein Pflichtprogramm abspiele. Wenn man auf der Bühne wirklich Spaß hat, merkt das das Publikum – und hat dann auch Spaß. Ich glaube, das habe ich bei Deep Purple eingebracht: Den Gedanken, vor der Musik Respekt zu haben, aber sie stets frisch und lebendig zu halten, in dem man sich selbst herausfordert und kleine Dinge ändert, dabei den Geist aber aufrecht erhält.

Wie fordern Sie sich als Gitarrist selbst heraus?

Ich übe jeden Tag, es gibt so viele Dinge zu tun. Ich habe kein Problem, mich selbst zu fordern. Ich arbeite täglich schon allein am mechanischen Aspekt des Spielens, ich glaube ich muss das tun. Ich möchte nicht eines Tages aufmachen und bemerken, dass ich das Spielen neu erlernen muss. Ich möchte meine Technik frisch halten, schreiben und dauernd neue Erfahrungen machen. Aber ich bin keine Fabrik, die schreiben und arbeiten muss. Ich lasse die Ideen zu mir kommen und sorge mich nicht besonders darum. Gut, wenn es um die Arbeit mit Deep Purple kommt, muss ich schon mal sofort mit Ideen daher kommen, das ist okay. Das kann ich – und das ist eine tolle Aufgabe für dein Hirn. Es ist wie Schachspielen.

Sie gelten unter Ihren Kollegen als höchst einflussreicher Gitarrist – gibt es junge Gitarristen, die Sie beeindruckt haben?

Es gibt unglaublich tolle, junge Spieler – und das auf der ganzen Welt – die durch YouTube eine Plattform erhalten haben und dort richtige Stars sind. Das technische Level von diesen jungen Leuten und YouTube-Stars ist absolut überragend. Es rührt natürlich von anderen Erfahrungen her, es ist ein anderer Blickwinkel, ein anderer Zugang. Und so soll das auch sein. Die physischen Barrieren des Spielens sind von diesen jungen Leuten zerschmettert worden. Eine besondere Art, ein Level zu spielen – absolut hervorragend.

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