laut.de-Kritik
Erfrischender Einstieg in ein neues DM-Jahrzehnt.
Review von Michael SchuhDas zweite Album ist immer das Schwerste. Sechs Jahre sind vergangen, seit Alan Wilder die Band äußerlich zum Trio schrumpfte und innerlich, so die weit reichende Annahme, zerstörte. Doch wie der Verlust des Soundtüftlers klingt, erfuhren wir 1997 mit "Ultra", einem ruhigen Werk, dessen Beurteilung von der allgemeinen Freude über die Band-Rückkehr getragen wurde. Der Zweitling entscheidet bei Newcomern über Leben und Tod, im Falle Depeche Modes kämpfen Stillstand versus Weiterentwicklung. In jedem Fall verhalten sich die Fans seit langem "very excited".
Trotz "Dream On". Klar, der catchy Refrain führte zum Single-Release, aber insgeheim wusste man doch, dass Martin Gore das besser kann. Richtig. Nicht nur schrieb er Sänger Gahan einige echte Song-Perlen auf den Kehlkopf, gerade jener liefert auf "Exciter" seine beeindruckendste Performance ab. Die kantigen Gitarren à la "Barrel Of A Gun" tauschte Producer Mark Bell gegen detailreiche Elektronik aus, was mitunter an selige "Violator"-Zeiten erinnert. Gerade Bell, der dank LFO-Mitgliedsausweis und Warp-Label-Präsenz als Klangdesigner schlechthin gilt, packte die Band anscheinend so richtig am Kragen, was bei alten Millionarios wohl nötig sein muss.
Heraus kam ein sehr intensives Album, dessen leicht verschrobene Songs man sich im Single-Format nur schwer vorstellen kann. "Shine" blubbert experimentierfreudig zu neuen Ufern und in "The Sweetest Condition" faucht und keift Gahan über eine getragene bluesy Slide-Gitarre, beides Vorzeigestücke Bell'scher Einflussnahme. Besonders die neu gewonnene Freude an soundspielerischen Gimmicks begeistert.
Mit welch einfachen Mitteln Atmosphäre erzeugt werden kann, zeigt "When The Body Speaks", eine leise Gitarren-Ballade, die zum Finale hin mit Streicherarrangements veredelt wird. Gores Lyrics befassen sich bekanntermaßen mit den schwierigen Momenten zwischenmenschlicher Beziehungen, die er selten in allzu abstrakte Wortgebilde kleidet. Auf "Exciter" spannt er diese Kunst der Einfachheit weiter; so heißt der beste Song des Albums tatsächlich "Freelove", ohne auch nur ansatzweise kitschig zu wirken. Die Zeile "If you've been hiding from love - I can understand where you're coming from" und die sehr minimale Umsetzung der Gänsehaut-Nummer sind echte Aufreger. Und: "When you're born a lover - you're born to suffer" ("Goodnight Lovers").
Wie es Gahan geschafft hat, eine für Gore vorgesehene Ballade für seine Stimme zu gewinnen, bleibt sein Geheimnis. Das genannte "Goodnight Lovers" im Gospel-Style ist jedenfalls das Beispiel für Gahans Arbeit an seinem stimmlichen Input. Gore steht seinem Kollegen in nichts nach; im elegischen "Breathe" wimmert er zum Ende mit ergreifendem Pathos. "I Am You" beschwört trotz Massive Attack nahen Beats vom Klanggerüst her die Wilder Years herauf. Allein die Dancebeats in "I Feel Loved" und die markerschütternden Killersounds im Refrain wirken penetrant, wenn nicht überproduziert. Die dunkle Krone des Albums gebührt dem unruhig zappelnden Kopfnickerrocker "The Dead Of Night", der ähnlich wie "Closer" von Nine Inch Nails auch unbeugsamste Manson-Fans auf die Tanzfläche locken könnte.
Es sieht gut aus für die Zukunft von Depeche Mode. "Exciter" ist der Schritt nach vorne. Falls dies der Anfang eines neuen Depeche Mode-Jahrzehnts ist, könnte Mark Bell der neue Gareth Jones werden. Jener Mann trieb die Jungs in den 80ern vom Mischpult aus in die großen Erfolge. Er kam erst zum dritten Album.
6 Kommentare mit 9 Antworten
Das beste DM-Album bisher! Sehr atmosphärisch. Songs wie 'Goodnight Lovers' findet man selten. 'Freelove' hätte ein bisschen mehr Liquid gut getan. Und das hier gar nicht erwähnte 'Comatose' ist KUNST. Eine einmalige Vertonung des Gesungenen. Eben DM.
in fankreisen wird gern der mantel des schweigens drübergelegt
soundtechnisch anders, dennoch nach eingewöhnung absolut genial produziert. unbedingt mit ner gescheiten anlage oder kopfhörern anhören
comatose zeigt ganz eindeutig bells handschrift und so locker leichte tracks wie "shine" funktionieren prächtig
5/5
Habe noch nie verstanden, warum diese Platte in den Depeche Mode-Fankreisen so gehasst wird. Aber wie man so oft feststellen kann, sind die "wahren Fans" auch oftmals die, die gar nicht mehr wirklich wahrnehmen, wie sehr sich ihre Devotion zur blinden Nostalgie gewandelt hat.
Meiner Meinung nach eines der besten Alben von Depeche Mode, zusammen mit dem "personal Jesus" der Band (Violator) and dem aktuellen Delta Machine. Intelligent, divers, unfassbar gut produziert ohne überladen zu wirken, durch die Stimme von Gahan getragen, die ätherisch über den Klangflächen schwebt. Hört sich pathetisch an? Ja, aber auch nur weil es wirklich ein verdammt gutes Album ist.
liegt auch daran, dass bei diesem album bell der produzent war. das merkt man klangtechnisch sofort und sticht eben aus den veröffentlichungen als novum heraus
gerade "shine" ist so unglaublich leicht produziert. vielleicht nicht das beste album der band aber ein wichtiges
Absolut. Top-Album ohne "It's No Good"-Massenhit, aber dafür unglaubliche Atmosphären. Spätes Meisterwerk auch von Bell. "Shine" und "Sweetest Condition" könnt ich in Endlosschleife hören.
Wenn nur "I Feel Loved" nich wäre. Die Nummer find ich so mies, die versaut mir immer den Spaß. Ansonsten gebe ich euch allen recht.
Wir schreiben das Jahr 2000. Die zunehmend auf Hochglanz polierte, pünktlich zum hippen Jahrtausendwechsel konsequent modernisierte Welt der Medien und Unterhaltungsindustrie befindet sich im Dauerzustand des technologischen Wettrüstens.
DVD, Playstation 2, Gigahertz-Prozessoren oder breit verfügbares DSL um nur wenige Schlagworte zu nennen gaben den Ton der schnelllebigen Zeitepoche an. Zur selben Zeit arbeiteten Depeche Mode mit Hochdruck am für 2001 angekündigten Album "Exciter". Nachdem Bandchef Martin Gore Ende der 1990er Jahre nach etlichen Tourneen in eine musikalische Sinnkrise verfallen war und mit der Hilfe von Freunden seine Motivation wiedererlangt hatte, sollte das neue Album anders werden. Kein düsterer, mit rockigen Elementen gespickter Sound, sondern frischer, sanfter. Futuristischer.
Mit dem mittlerweile verstorbenen Mark Bell, seines Zeichens Gründungsmitglied des revolutionär-abstrakten Elektronikprojekts LFO wurde ein Visionär an Land gezogen, der dem zehnten Studioalbum den nötigen vielschichten Anstrich verleihen sollte.
Das Experiment kann als gelungen bezeichnet werden. Nie zuvor und auch nie wieder danach klang ein Album der Synthie-Pop-Gruppe so leicht und doch komplex zugleich.
Schon der Opener "Dream On", der trotz Mainstreamtauglichkeit musikalisch sperrig genug umgesetzt den Fluss des Folgenden in keinster Weise stört, setzt auf kühl arrangierte elektronische Brillianz mit verpielten Tempowechseln, die auf "Shine" ihren Höhepunkt in schwebenden Synthieflächen finden, die gegen Ende des Tracks in einem druckvollem Feuerwerk münden.
Das Thema Liebe zieht sich recht geradlinig durch das Album und findet sich in unterschiedlichster Ausprägung, so beim einschmeichelnden Instrumental "Lovetheme", dem treibenden Tanzstampfer "I Feel Loved" oder dem lockerleicht inszenierten, mit SCi-Fi-Effekten angereicherten "Freelove", das einen im wahrsten Sinne des Wortes frei fühlen lässt und entschleunigend wirkt. Dave Gahan präsentiert sich dabei stets routiniert und stimmlich auf der Höhe.
Das vordergründig liebliche, unterschwellig jedoch pulsierend brummende "When the Body Speaks" und das bluesig wiegende "The Sweetest Condition" tragen einen weiteren großen Anteil an der besonderen Stimmung, die aber auch jederzeit ins Gegenteil abdriften kann. So geschehen beim eindruckvollen "The Dead of Night", das sich zwar recht einfachen Textes bedient, doch in der soundtechnischen Ausführung eines wütenden, röhrenden Elektro-Monstrums keine Wünsche offenlässt und als idealer Gegenpol zur allgemeinen Entspanntheit fungiert.
Martin Gore darf auch wieder einiges zum Besten geben und tritt in der leichten Schwächephase des Albums gewohnt pathetisch und voll Inbrunst auf ("Breathe"), der anschließende, zahnlose "Easy Tiger" als Instrumental vervollständigt den Eindruck.
Das ist jedoch vollkommen unerheblich, da er mit "Comatose" wieder einen dieser magischen Momente schafft, das in seiner hypnotischen Sogwirkung zu einem der besten Songs des Albums wird. Bells spacy Produktion scheint ihrer Zeit vorraus und zeigt sich zudem sehr detailverliebt.
Den Abschluss machen das sich langsam aufbauende, mit düsteren Beats ausstaffierte "I Am You" und das erhabende "Goodnight Lovers", das es als eines der wenigen Stücke des Albums auf spätere Liveauftritte geschafft hat. Das Album wirkt, anders als die anderen Werke der reichhaltigen Discografie wohl aufgrund seiner geschliffenen Darstellung passender in digitalen Anlagen.
Der damaligen Zeit eben entsprechend.
2000 war ein besonderes Jahr für Depeche Mode.
5/5
Haste doch nicht "Faith & Devotion" gemacht, wa.. Du alter Publizist!
Kommt noch
"Der damaligen Zeit eben entsprechend."
Aktuell sind doch erst die 90iger wieder hipp, so weit ist 2001 von uns noch nicht weg dachte ich sofort. Ansonsten stimmt ja alles und man kann fast schon sagen, wie immer feines Review. Wichtiges Album, feine Wahl, neidisch ein bisschen.
Gruß Speedi
Klar, sicher, kommt alles wieder. In paar Jahren sind wir wieder alle O2 an Weihnachten Fands bloß spannend dieses unterkühlt Technoide dieser Zeit auch auf diesem Album zu spüren!
einfallsloses, langweiliges, uninspiriertes geblubber. außerdem viel zu wenig düster. das einzige wirklich schlechte album der band. 1/5
hartes urteil; geht mir ähnlich.
Habe es vorhin zufällig gehört. Aber "The Dead Of Night" ist schon ziemlich düster. DeMo ist aber eine der wenigen Bands, wo mir die Singles besser als die Alben gefallen. Deswegen kann ich mit den düsteren Stücken nicht soviel anfangen.
Exciter ist definitiv das unkommerziellste Album der Band.
Hier ging es definitiv nicht darum eingängige Hits zu schreiben, sondern tiefgängige Stücke zu schreiben.
Interessant beim Blick auf die Bandgeschichte ist vor allem der Kontrast zu den eher düsteren aber deutlich eingängeren Vorgänger- und Nachfolgealben Ultra und Playing the Angel