laut.de-Kritik
Wunder gibt es immer wieder.
Review von Jakob HertlFrischer Deutschpop-Wind aus dem Nachbarland: Mathea, Eli Preiss, Esther Graf – aus Österreich strömt gerade eine ganze Generation interessanter Pop-Newcomerinnen nach Deutschland und beißt sich in den Charts fest. Ohne die Musik und den Erfolg der anderen beiden schmälern zu wollen: Esther Graf ist mit Abstand die spannendste Neuentdeckung der upcoming Ösi-Popstars.
Der Weg aus einem kleinen Kaff in Kärnten zu mittlerweile fast einer Million monatlichen Spotify-Hörer*innen – und das ohne ein eigenes Album – spricht für sich. Bisher hat sich Esther Graf vor allem als Feature-Gast bei prominenten deutschen Artists von Olexesh über Finch Asozial bis hin zu Alligatoah einen Namen gemacht. Nun gibt es aber endlich auch ihre erste EP.
"Red Flags" enthält sechs Songs, in denen Esther Graf insgesamt die verschiedenen Phasen einer schmerzhaften Trennung verarbeitet. Den Anfang macht "Nie Begegnet", der einzige Song, der mit Deutschrapper Monet192 ein Feature enthält. Er legt in seinem Part einen richtig soliden Auftritt hin, auch sonst sind die Strophen mit trendy Hip Hop-Beat deutlich dynamischer als der vergleichsweise langweilige Refrain.
Es folgt die bisher erfolgreichste Single, der Titeltrack "Red Flags". Vom Intro, das zunächst eher weniger erfreuliche Sportfreunde Stiller-Vibes versprüht, darf man sich nicht täuschen lassen. Denn es folgt eine fröhliche Mischung aus Mainstream-Pop und einzigartigen Elementen. Mit harmonischen Gitarren, einer gesanglichen Glanzleistung und einer der besten Bridges, die ich seit langem gehört habe, entwickelt sich "Red Flags" trotz eher belastendem Text zum ultimativen Feel Good-Hit. Esther Graf hat es geschafft, dass ich höchstpersönlich – ja ich gebe es öffentlich zu – zu deutschsprachigem Pop durch die Bude tanze, als gäbe es kein Morgen mehr. Dafür alle Hüte, die ich besitze, ab.
"Hab so viel Energie, ja ich dachte sie reicht für zwei" singt Esther Graf in "Wie Mein Herz Bricht". Ein ruhiger, trauriger Song, der musikalisch eher untergeht, sich mit seinem persönlichen Text jedoch gut in die EP einfügt. Auch "Letzte Mail" ist musikalisch nicht gerade ein Glanzstück, deshalb direkt weiter zu "Tschau Tschau".
So niedlich die gleich ausgesprochene Hunderasse aussieht, so stark ist vor allem der Beat des Tracks. Props an der Stelle mal an Produzent Menju. Inhaltlich lässt Esther Graf in "Tschau Tschau" ihren mysteriösen Horror-Exfreund, von dem praktisch die gesamte EP handelt, endlich hinter sich "Tschau Tschau, Junge, Bye Bye/ Ja du warst viel zu lange hier."
Find ich auch. Von den Texten, so persönlich und bedeutend sie für Esther Graf sein mögen, hat man recht schnell genug. Auch musikalisch wiederholt sich vieles spätestens beim sechsten und letzten Track "Mehr Als Du Mir Gönnst". Insgesamt hätte man von der EP nach den extrem starken Feature-Auftritten noch etwas mehr erwarten können. Das liegt vor allem daran, dass "Red Flags" sich im Mainstream-Pop einordnet. Vielleicht hätte etwas mehr Mut zum Hip Hop gutgetan. Dass Esther Graf dort am besten aufgehoben ist, zeigt nicht zuletzt mein absoluter Favourite-Titel "Geldautomat" von 2021.
Trotzdem muss ich an dieser Stelle mal eine Lanze für diese EP brechen. Wer die Kritik zum deutschen ESC-Vorentscheid gelesen hat, der weiß – seichter Deutschpop vereint eigentlich alles, was bei mir Würgereiz auslöst. Esther Graf scheint auf den ersten Blick genau in diesen Trott von Belanglosigkeit mit hinein zu sinken. Aber irgendwas an ihr ist anders, irgendwie ist in dieser Musik ein Feuer, eine Coolness, eine Freude und Sorglosigkeit, ein mir unerklärlicher Charme, der aus mir trotz des Popsounds einen kleinen Esther Graf-Fanboy gemacht hat. Wunder gibt es eben immer wieder.
Keine Ahnung, zu was die Frau noch alles in der Lage ist, vielleicht könnte sie mich auch dazu bringen, mir eine Glatze zu rasieren oder Ananas auf Pizza zu essen. Zur Überprüfung, ob ich nicht plötzlich verhext bin, habe ich mir im Nachgang sicherheitshalber eine Portion Wincent Weiss, Adel Tawil und LEA zum Vergleich reingezogen – die finde ich allesamt immer noch grauenhaft, es muss also doch an der einzigartigen Stimme von Esther Graf liegen. Mark my words: von der werden wir in Zukunft noch eine ganze Menge hören.
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