laut.de-Kritik
Eine Frau mit Dämonen. Eine wahnsinnig gute Sängerin.
Review von Anastasia HartleibKritiker, MusikjournalistInnen und andere Musik-Begeisterte schmeißen ja hin und wieder gern mit Superlativen um sich. Ein "Album des Jahres", oder ein "instant classic", Bands mit sofortigem "Kultstatus" oder auch das - man möchte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber wirklich "großartigste Album der Karriere/des Genres" oder, ganz bescheiden "des Jahrzehnts".
Bei vielen, sind wir ehrlich, sehr vielen Alben und Newcomern stellt sich im Laufe der Zeit heraus, dass die überschwängliche Begeisterung vielleicht etwas zu voreilig geäußert wurde. Manche Sterne verblassen einfach, andere stellen sich als doch nicht so wegweisend heraus. Und doch gibt es hin und wieder Künstler*innen, die so eindeutig anders und überwältigend sind, dass man sie nur mit Superlativen zu fassen bekommt.
Etta James fällt eindeutig in diese Kategorie. Sie war eine musikalische Naturgewalt, ausgestattet mit einem Gesangsorgan, das auch noch etliche Jahre später nichts an seiner erschütternden Wirkung eingebüßt hat. Eine - Achtung, ultimatives Superlativ - Jahrhundertstimme, eingepackt in eine fast schon mystische Figur, voller Zerrissenheit, Leid und Leidenschaft. Eine Frau mit Dämonen. Eine wahnsinnig gute Sängerin.
Es ist kaum zu fassen, dass sie bei den Aufnahmen zu ihrem Debütalbum "At Last!" gerade einmal Anfang 20 ist. Ihre Stimme klingt so voll und reif und ihre Intonationen so versiert, dass man es unmöglich mit einem jungen Rookie zu tun haben kann. In Wahrheit ist sie das auch nicht, denn Etta James singt bereits, seit sie laufen gelernt hat, vermutlich sogar schon davor. In Gospelchören, in Girlbands und mit Rhythm And Blues-Wegbereitern wie Johnny Otis. Bereits mit 15 hatte sie mit letzterem ihren ersten Hit "The Wallflower" bzw. "Roll With Me Henry", eine sehr zweideutige Antwort auf Hank Ballards "Work With Me Annie".
So steht 1960 also kein unbeschriebenes Blatt im Studio, sondern eine energiegeladene Vollblut-Sängerin. Wie freiwillig sie diesen Weg als junges Mädchen einschlug, bleibt fraglich, denn ihr erster musikalischer Mentor hielt es für angebracht, ihr die richtigen Töne zur Not auch aus dem Leib zu prügeln. Fest steht aber: Etta James machte die Musik zu ihrem Weg, zum 'Ganz oder gar nicht'-Weg. Und das hört man in jedem einzelnen der zehn Songs.
Betrachtet man die musikalischen Arrangements von "At Last!" fällt auf: Die sind eigentlich, zumindest für ihre Zeit, nicht unbedingt etwas Besonderes, sondern klassische Balladen mit dramatischen Streichern, ein paar Bläser für die gute Laune und reduzierte, repetitive Melodien. Auf die Dauer des Langspielers wirken die Instrumentale fast etwas eintönig. Das tut aber glücklicherweise überhaupt nichts zur Sache, denn bei diesem Album geht es überhaupt nicht um Instrumente oder ausgeklügelte Rhythmik. Das Riley Hampton Orchestra, das für die Vertonung engagiert wurde, fungiert lediglich als Hintergrund-Begleitung - und Orientierungshilfe für Hörer und Hörerinnen, die sich in der Stimmgewalt der Sängerin verlieren.
Und das passiert sehr viel schneller, als einem lieb ist. Bereits in den ersten Takten von "Anything To Say You're Mine" muss man sich Etta James' Urgewalt ergeben. "Huh-huh, I'm so blue" schmettert sie den Hörenden entgegen und man weiß schon: Hier wird nicht gehaucht, gesäuselt oder zärtlich geflüstert. Nein, "At Last!" ist das vertonte Ausrufungszeichen, pure geballte Emotion und dramatischer Vortrag. Etta James singt nicht für sich. Nein, sie singt für alle im Umkreis von zwei Blocks und darüber hinaus. Damit jede und jeder hören kann, welches Leid sie erfährt. "You promised to write me each and every day / and I haven't heard from you since you went away / I sit by my window pane / Hopin' for a letter / one that never came."
"At Last!" kennt nur ein Thema: Die Liebe. Hauptsächlich unerfüllte, leidende Liebe, hin und wieder auch Liebe in Form von sexueller Leidenschaft, materielle Liebe und einmal auch glücklich gewordene Liebe. Aber in jedem Song ist klar: Die Protagonistin heißt James. Etta James. Sie ist es, die leidet und verzweifelt liebt, die führt und verführt, die besitzt, tröstet und umsorgt. "Cling to me Daddy and, oh yeah, I'll be strong", singt sie in "Trust in Me", "If I could just hold your charms here in my arms", in "Girl Of My Dreams".
Mal ist sie die verzweifelte Zuschauerin wie in "All I Could Do Was Cry", die ihrem Liebsten dabei zusehen muss, wie er eine andere heiratet. Die Entrüstung, mit der sie berichtet: "Rice, rice (!) has been thrown over their heads / For them life has just begun / but mine is at an end", ist so direkt spürbar, dass man dieses groteske Ritual des Getreide-Werfens am liebsten abschaffen würde.
Mal ist sie die "Tough Mary", die kokett und unheimlich mitreißend ihre Verehrer ausnimmt. Die Zeilen "Don't bring me roses, when it's shoes I need / don't bring me flowers, don't bring me the sea / just bring me some diamonds / that'll suit me fine / and I'll love you forever / and you'll be mine" sind heute noch genauso ikonisch wie damals. Eine Frau, die verdammt noch mal weiß was sie will und sich genau das nimmt - mit einer Selbstverständlichkeit, die sich nicht viele Frauen dieser Ära leisten durften.
Dann ist sie die schamlose Verführerin, die Männer mit ihrer vollen Erotik-Power ans Bett kettet. "I don't want you to work all day / but I want you to be true / and I just wanna make love to you." Und dann, dann ist sie die glücklichste Frau der Welt. Denn "At Last", endlich, hat sie ihren Mann für sich.
War ihre Power bis dahin schon explosiv und überwältigend, kommt mit dem Titelsong noch einmal ein ganz neues Level von inbrünstiger Emotion. Sie schmettert die Zeilen davon, egal ob sie noch jemand zu greifen bekommt, denn die Gefühle haben die vollständige Kontrolle über die Sängerin übernommen und alles, was den Hörenden übrigbleibt, ist sich dieser gewaltigen Welle zu ergeben. Man wird überschüttet mit Leidenschaft, die es hörbar nicht einfach hatte, aber nun endlich am Ziel ihrer Träume ist. Die Wangen sind noch salzig von Tränen, die Haut übersät von Wunden, aber der Kampf ist gewonnen. "At Last, my love has come along / my lonely days are over / and life is like a song."
Dass einige der Songs auf "At Last!" Cover-Versionen von Gassenhauern der Blues- & Jazzmusik sind, erscheint in Anbetracht der Interpretin geradezu banal. Etta James fühlt jeden einzelnen Song als wäre es ihr eigener. Zurecht wird heute ihre Version von "At Last" als das 'Original' angesehen, denn niemand hat es vor oder nach ihr geschafft, die Menschheit so zu fesseln. Kein Glenn Miller, keine Joni Mitchell, kein Stevie Wonder, keine Beyoncé.
Etta James bietet nicht an, mit ihr zu fühlen, sie zwingt das Publikum dazu, so lange, bis es in die Knie geht und sich ihr hingibt. Auch über sechzig Jahre nach der Erst-Veröffentlichung von "At Last!" und über zehn Jahre nach ihrem Tod ist das noch so. Und das wird auch künftig so bleiben. Schließlich ist Etta James die Königin des Soul, des R&B, des Blues und Rocks. Eine Jahrhundertstimme eben.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
1 Kommentar mit einer Antwort
Was für eine wunderschöne Stimme Etta James hatte.
Es handelt sich um das Album At Last! von Etta James ♥