Porträt

laut.de-Biographie

Ilhan44

"Ich will einen Pulitzer, Dikka!" Gleich in seinem allerersten Interview - mit Jan Kawelke beim Sondcheck von WDR Cosmo - lässt Ilhan44 durchblicken: Er hat hochfliegende Träume. Klar schwingt da ein Witz mit, aber warum sollte das eigentlich nicht funktionieren? Kendrick Lamar hat es vorgemacht, und auch Ilhan hat zu diesem Zeitpunkt schon weit mehr erreicht, als die Umstände, in die er hineingeboren wurde, hätten ahnen lassen.

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Ilhan Kaan Hancer ergeht es wie vielen Migrantenkindern: Geboren und aufgewachsen in Berlin, bekommt er doch immer wieder zu spüren, nirgends so richtig dazuzugehören. Die 44 in seinem Künstlernamen kündet dennoch von Verwurzelung: Berlin-Neukölln ist seine Hood. In den 1990er Jahren ist die allerdings noch weit von dem durchgentrifizierten Szenebezirk entfernt, zu dem der Kiez sich wandeln soll.

"Ich erinnere mich an den Geruch von Nüssen", denkt Ilhan an seine Kindheit zurück, "und an Shisha-Rauch aus den Läden. Ich habe es geliebt. Aber ich erinnere mich auch an Blut, Gewalt, Blaulicht. Ich habe Leute in den Straßen sterben sehen." Ilhan erzählt von Junkies und ihrem Verfall, den er beobachtete, von häuslicher Gewalt: "War schon 'ne eklige Zeit."

Schon dieser winzige Blick zurück zeigt: Ilhan44 schaut sehr genau hin. Er hat ein scharfes Auge für Details, und er sieht die Missstände, die ihn umgeben. Davon gibt es zunehmend mehr: "Aufgewachsen bin ich in Nord-Neukölln, dem besseren Teil des Bezirks. Wir wurden dann immer weiter in den Süden gentrifiziert." Ganze Nachbarschaften werden verdrängt, buchstäblich an den Rand geschoben.

Für Ilhan44 handelt es sich bei Gentrifizierung nicht um einen abstrakten Begriff. Als er 14 ist, ist die Gegend bereits so teuer geworden, dass seine Familie in einen Hochhauskomplex am Rand des Bezirks umziehen muss. Ilhans Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits in die Türkei abgeschoben worden, der Vater mit der Situation und drei Kindern offensichtlich überfordert. Ilhan übernimmt für seine beiden jüngeren Schwestern Verantwortung und rutscht in die Rolle des Versorgers - viel zu früh.

Seine Sorgen und Nöte, seine Perspektivlosigkeit und den Zorn, der daraus erwächst, lässt Ilhan44 in Texte fließen. "Ich schreibe, seit ich in der dritten Klasse bin", erzählt er bei WDR Cosmo, zunächst verfasst er Gedichte.

Die erste Begegnung mit Rap: "als Eko und Savas sich gebeeft haben." Auf eine Seite will er sich in diesem Zwist nicht schlagen: "Ich fand nur die Disstracks cool."

Hip Hop entwickelt sich zu Ilhans ständigem Begleiter, er hört Bushido und natürlich Kool Savas, verortet sich selbst aber eher in der Tradition von US-Kollegen wie Mos Def oder KRS-One.

Bühnenerfahrung sammelt Ilhan44 jedoch zunächst als Poetry Slammer. Beim muslimischen Kollektiv i.slam findet er 2013 offene Arme und Inspiration. "Schreiben konnte ich schon, aber richtig schreiben habe ich da erst gelernt", so Ilhan, der seine Zeit bei i.slam vor allem als ermutigend und beflügelnd beschreibt.

Auf "normalen" Poetry Slam-Bühnen, in ihrem weißen, studentischen Umfeld, fühlt er sich dagegen nicht willkommen. "Ich hatte keine schöne Zeit da. Ich habe zu spüren bekommen, wie irrelevant meine Probleme sind, wenn da gleichzeitig Leute sind, die sich über Tinderdates aufregen", bemerkt er sarkastisch.

Dabei hat er von diesen angeblich irrelevanten Problemen mehr als genug. Die Familie ist finanziell ständig klamm, Zukunftsperspektiven gibt es kaum. Ilhan hält sich und die seinen mit Gelegenheitsjobs und Drogentickerei über Wasser.

Neben all dem besteht er zwar sein Abitur und beginnt auch ein Studium. Das bricht er jedoch bald wieder ab. Er steckt zugunsten seiner ehrgeizigen Schwester zurück. Um beide Studiengänge zu finanzieren, reicht, wie so oft, das Geld nicht.

Es reicht auch nicht, um seine Musik so aufzunehmen, wie Ilhan44 das vorschwebt. Deswegen gibt es lange Zeit gar kein greifbares musikalisches Lebenszeichen von ihm. Erst im Herbst 2020 erscheint die EP "Al-Azif", deren Titel auf H.P. Lovecraft verweist und mehrere Bedeutungsebenen mitbringt.

Ilhan referiert auf den, laut Lovecraft, arabischen Originaltitel des Necronomicons, Kitab Al'Azif. "In einem syrischen Dialekt bedeutet es so etwas wie 'Der Wissende', aus dem Griechischen kann man es mit 'Die Toten betreffend' übersetzen." Beides passt, findet Ilhan44, für den die Begegnung mit dem Tod zum Leben gehört. Der in Syrien wütende Bürgerkrieg hat ihn viele Verwandte gekostet.

Die Tracktitel auf "Al-Azif" spiegeln wieder Ilhans Auge für Details: "Dunst", "Qualm", "Nebel", "Dampf", "Rauch" heißen seine Songs. "Das sind alles Metaphern für die kleinen, feinen Unterschiede", sagt Ilhan. Worte, die zwar sehr Ähnliches beschreiben, aber doch verschiedene Bedeutungen haben.

Auch bei seiner zweiten EP spricht der Titel Bände: Viel auf "110" dreht sich um die Polizei und um die diskriminierende Behandlung seitens der angeblichen Freunde und Helfer, die jeder kennt, der eben kein blondes, blauäugiges, wohlsituiertes deutsches Mittel- oder Oberschichtskind ist.

Ilhan44 will den Platz, den ihm die Gesellschaft automatisch zugewiesen hat, nicht sprach- und widerspruchslos hinnehmen: "Von Rassismus und Diskriminierung betroffen zu sein, ist ein lähmendes Ohnmachtsgefühl. Ich wünsche es keinem."

Er selbst liefert den besten Beweis dafür, dass die Dinge aber nie zwingend so laufen müssen, wie es zunächst den Anschein hat: " Ich habe getickt, ich habe mich geprügelt - und jetzt steh' ich auf der Bühne und trag' Gedichte vor." Warum also nicht auch der Pulitzer-Preis - irgendwann?

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