laut.de-Kritik

Jubiläumsparty: 28 Songs, die in Deutschland niemand kennt.

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Die Karriere von Indochine lässt sich in zwei Abschnitte einteilen: Die vor und die nach dem Tod von Stéphane Sirkis. Mit nur 39 Jahren erliegt der Keyboarder und Gitarrist der französischen Kultband 1999 einer Hepatitis-Erkrankung. Für Stéphanes Bruder Nicola, Sänger und Aushängeschild der Gruppe, mehr als nur eine private Katastrophe. Künstlerisch waren Indochine am Boden, die Grunge- und Britpop-Fixierung ließ auch im Frankreich der 90er wenig Raum für die Pop-Könige der 80er. Der Songwriter sämtlicher Hits, Dominique Nicolas, war bereits Jahre zuvor ausgestiegen, der Saxofonist ebenfalls. Zudem stand Sirkis die Geburt des ersten Kindes bevor, Gründe genug, das mit der Musik einfach sein zu lassen.

Selten passte die Redewendung, wonach eine Band wie Phönix aus der Asche steigt, so perfekt wie auf Indochine im Jahr 2002. Für Presse und Öffentlichkeit nach wie vor ein Nostalgie-Act, gerät das Album "Paradize" mit der Mickey D.-Kollabo "J'ai demandé à la lune" zum überraschenden Triumphzug. Im neuen Gitarristen Olivier Gérard, Künstlername oLi dE SaT, findet Nicola Sirkis abermals einen Seelenverwandten, dessen melancholische Arrangements den Ton seiner Texte treffen. Eine, wenn nicht zwei neue Generationen entdecken derweil den Zauber der New-Wave-Band neu, der Schub für Synthie- und Postpunk-Bands Mitte der Nullerjahre dürfte sein Übriges getan haben.

Spätestens 2010 hatte es Sirkis dann allen Zweiflern gezeigt: Erstmals verkauft eine französische Band das Stade de France in Paris aus und spielt vor knapp 80.000 Zuschauern. Die Genugtuung darüber konnte man noch aus dem Titel des dazugehörigen Live-Albums 2011 heraus lesen: "Putain De Stade". Auch wenn Sirkis kein allzu nostalgischer Mensch ist, legten 40 Jahre Bandkarriere eine große Jubiläumsparty nahe. Wegen Corona verschiebt sich zwar die Stadion-Tour, zwei große Single-Retrospektiven erscheinen aber in kurzer Abfolge.

Auch in Deutschland gibt das Label nun Gas, um den nach wie vor erschreckend geringen Bekanntheitsgrad der Franzosen zu vergrößern. "Wir sind keine 80er-Jahre-Band", stellte Sirkis jüngst im laut.de-Interview etwas trotzig klar. Da passt es ins Bild, dass mit "Singles Collection (2001-2021)" zunächst mal die letzten 20 Jahre abgefeiert werden, bevor die Frühphase ab 1981 geadelt wird. Hierzulande dürften sich einige Fans von melancholischem Alternative Rock verwundert die Augen reiben.

Über 28 Songs lang wandert man den Weg Indochines zum Mainstream-Phänomen entlang. Wie das klingt? Ungefähr so, wie Sirkis selbst es uns in den Block diktierte: "In Frankreich waren wir lange die französischen The Cure und in Kanada die französischen U2. Wenn die Deutschen uns als französische Depeche Mode betrachten, kann ich damit leben."

Der Bezug zu Martin Gore und Co. ist angesichts zahlreicher Dunkelpop-Hymnen leicht herzustellen, sei es das tanzbare "Crash Me" oder das funkelnde, sogar mit englischem Refrain ausgestattete "Black City Parade", das Indochine 2015 in Berlin aufgenommen haben. U2 ist mittlerweile etwas irreführend, eher stößt man hin und wieder auf den Bombast der Killers in Arrangement und fast schon lehrbuchhafter Refrain-Konzeption ("Belfast").

Sirkis' Stimme hat sich über die Jahre der alten Sprunghaftigkeit entledigt, verfügt über mehr Gravitas und passt sich dem immer etwas wehmütigem Sound an. Kleine Flashbacks zu ihrer glorreichen Synthiepop-Vergangenheit findet man in Oktavbass-Perlen wie "Traffic Girl" oder dem luftig-poppigen "Mao Boy". Das sind schon astreine Kompositionen, wenngleich trotzdem ein wenig schleierhaft bleibt, wie man mit so einer Art Musik derartige Massen bewegt - in Deutschland für einen Alternative-Pop-Act jedenfalls undenkbar. Das eingängige "Nos célébrations", extra für die Compilation komponiert, zeigt Indochine ebenfalls auf der Höhe ihrer Kunst. Schwer zu glauben, dass der Sänger dieses Songs bereits 61 Jahre alt ist. Auf die Alterslosigkeit seiner Stimme dürfte ein großer Teil ihres Erfolgs zurück zu führen sein.

Trackliste

  1. 1. J'ai demandé à la lune
  2. 2. Mao Boy
  3. 3. Le grand secret (feat. Melissa Auf der Maur)
  4. 4. Marilyn
  5. 5. Popstitute
  6. 6. Electrastar
  7. 7. Un singe en hiver
  8. 8. Alice & June
  9. 9. Ladyboy
  10. 10. Adora
  11. 11. Pink Water
  12. 12. Crash Me
  13. 13. Little Dolls
  14. 14. Play Boy
  15. 15. Le Lac
  16. 16. Un ange à ma table (feat. Suzanne Combo)
  17. 17. Le dernier jour
  18. 18. Memoria
  19. 19. College Boy
  20. 20. Black City Parade
  21. 21. Belfast
  22. 22. Traffic Girl
  23. 23. La vie est belle
  24. 24. Un été français
  25. 25. Station 13
  26. 26. Song for a dream
  27. 27. Karma Girls
  28. 28. Nos célébrations

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3 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Es sollte 'fast' keiner kennt heißen. Es gibt ein deutsches Fanportal. Ohne diese Band gäbe es unseren Sohn heute nicht. Es gibt schon Menschen hierzulande, die Indo hören und nach Frankreich zu Konzerten fahren.

  • Vor 3 Jahren

    Bin total unsicher, was ich davon halten kann. Stellenweise ganz gut, stellenweise öde. Die scheußliche Gesangssprache läßt mich da eher in Richtung "öde" tendieren, aber irgendwie habe ich Lust, mich mal in die Bandgeschichte hineinzuhören.

  • Vor 3 Jahren

    Ich war nun schon auf Rund einen Dutzend Indo Gigs, zuletzt 2019 die beiden Abschlussgigs in der Fussballarena von Lille. Was Sirkus und Co in Sachen Show veranstalten ist sensationell. Für 45€ Riesenproduktionen, keine Abzocke und versteckte Ticketgebühr. Das letzte Album 13 gehört zu den besten elektronischen Produktionen.

    • Vor 3 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 3 Jahren

      13 steht hier ungehört im Schrank. Is nicht mehr unseres, das war 3.6.3. oder A&J - aber, es soll jeder in der Band das finden, was Sie für Ihn ausmacht. Lille 2021 ;)

    • Vor 3 Jahren

      Das macht ja Indochine Interessant. Dass sie nicht wie DM seit 20 Jahren die gleiche Sülze machen. Bin mir ziemlich sicher, dass der Studionachfolger von 13 komplett anders wird

    • Vor 3 Jahren

      Hey Thomas,
      ich würde sogar behaupten, dass jeder Tag im Leben anders sein kann.
      Aber Danke für die unkonventionelle Verknüpfung mit der Musikbranche. Hoffentlich wird wenigstens der Herbst so schön angenehm wie letztes Jahr.

      Grüße an dich, du Schlingel