laut.de-Biographie
Indochine
Von der Formation Indochine, die Anfang der 1980er Jahre Frankreich in helle Aufregung versetzt, ist im Jubiläumsjahr 2020 nur noch Sänger Nicola Sirkis übrig. Es ist das Jahr, in dem Corona die Welt im Würgegriff hält und auch Indochine umdisponieren müssen. Eine geplante Tournee wird auf 2021 verschoben. Doch an der großen Album-Retrospektive auf vierzig zumeist erfolgreiche Jahre im Popbusiness hält das Quintett fest.
Die Compilations "Singles Collection 2001-2021" und "Singles Collection 1981-2001" sowie der neue Song "Nos célébrations" ("Unsere Feierlichkeiten") belegen die Freude der Band an der Nostalgie. Die Pariser blicken auf über zehn Millionen verkaufte Singles und Alben zurück und gelten als eine der erfolgreichsten Gruppen aus Frankreich. In Deutschland zwar weniger bekannt, feiert man Indochine dafür fernab in Kanada, Südamerika und Vietnam.
1982 ist eine derartige Karriere natürlich undenkbar. Zumal die erste Hitsingle "L'Aventurier" dem gerade angesagten, zunächst aber eher belächelten Genre Synthiepop zuzuordnen ist. Der Song ist eine Hommage an Bob Morane, den Helden zahlreicher Henri Vernes-Bücher, die Sänger Nicola Sirkis in seiner Kindheit in sich aufsaugt. Diese verbringt er zunächst in Belgien, der Heimat des Schriftstellers. Dort arbeitet sein Vater für die Europäische Gemeinschaft in Brüssel als Chemieingenieur.
Nach der Trennung seiner Eltern zieht er im Alter von 15 Jahren mit der Mutter, Bruder Christophe und seinem Zwillingsbruder Stéphane nach Paris. Dort lernt er Dominique Nicolas (Gitarre) kennen, mit dem er erste musikalische Schritte geht. Der Musiker zeigt Sirkis einige Demos, für den Song "Françoise" findet dieser aus dem Stand Worte. Nach Dimitri Bodianski (Saxofon) stößt zuletzt Sirkis' Zwillingsbruder Stéphane hinzu, maßgeblich übrigens auf Drängen von Sirkis' Freunden. Der Sänger hatte zunächst Vorbehalte aufgrund der familiären Beziehung. Doch die Chemie stimmt: Indochine ist komplett. Nicola benennt die Band nach der Heimat der von ihm verehrten französischen Schriftstellerin Marguerite Duras. Gleichzeitig gefällt ihm auch die Analogie zur britischen Post-Punk-Band Japan.
Schon nach ihrem ersten Auftritt, der 30 Minuten dauert, erhalten Indochine einen Plattenvertrag. Das Debüt "L'aventurier" erscheint Ende 1982, nachdem das Quartett gerade mal etwas mehr als ein Jahr zusammen spielt. Es beinhaltet nur sechs Songs, darunter eine Coverversion des Jacques Dutronc-Hits "L'opportuniste" und verkauft sich 250.000 Mal. Das Titelstück "L'aventurier" schießt im Sommer 1983 sofort auf Platz eins der französischen Charts und ist bis heute ihr bekanntester Song.
Eine tanzbare, fröhliche Popnummer, deren synthetische Leadmelodie Melancholie versprüht. Damit sind Indochine auf der Höhe der Zeit und gelten schnell als Geheimtipp bei Fans von Depeche Mode und The Cure. Mit den britischen "Just Can't Get Enough"-Chartbreakern kommt man sogar bald auf Tuchfühlung: Nur ein halbes Jahr nach ihrem ersten Konzert eröffnen Indochine im April 1982 im Pariser Théâtre Le Palace für Dave Gahan und Kollegen. Auch mit der damaligen New Wave-Band Taxi Girl von Mirwais spielen sie einige Konzerte.
Diesen deutlichen Bezug auf britische Bands gab es in Frankreich vor Indochine nicht: Die Gebrüder Sirkis tragen nicht nur die damals klassische New-Wave-Frisur eines Robert Smith, ihre Kombination aus Indie-Rock und Elektronik bringt frischen Wind in die verkrustete französische Musikszene. Indo, wie die Fans sie nennen, nähern sich nicht in kleinen Schritten dem Ruhm, sie werden von ihm überwältigt. Ab dem Album "3" von 1985 sind sie in der Riege französischer Superstars und weiten ihre Popularität auch nach Belgien und Skandinavien aus. Im Zuge der Hitsingles "Canary Bay", "3eme Sexe" und "Trois nuits par semaine" verkauft sich das Album in Europa knapp 800.000 Mal. Ihre Songs behandeln jugendlichen Eskapismus, Ängste, Genderfragen und Romantik und machen sie damit zu Helden einer ganzen Generation.
Als Zeugnis dieser Begeisterung dient das Live-Album aus dem Pariser Zenith von 1986. Auch Chanson-Legende Serge Gainsbourg outet sich als Fan und dreht den Videoclip zu "Tes yeux noirs". Zeitgleich verbreitet sich der Indochine-Virus fernab in Peru, wo die Franzosen bald Platinauszeichnungen einfahren. Gitarrist Stéphane verfällt allerdings zunehmend den Fallen, die plötzlicher Ruhm jungen Menschen stellt. Sein Leben abseits der Bühne spielt sich zunehmend in Kreisen ab, in denen man einen berühmten Gitarristen hofiert und als Statussymbol missbraucht. Drogen und Alkohol bestimmen bald seinen Alltag.
Das Album "7000 Danses" entsteht in einem Luxusstudio auf den Antillen, gemischt von Beatles-Produzent George Martin. Spätrömische Dekadenz bestimmt den Bandalltag. Die eher introspektive Platte stößt jedoch einige Fans vor den Kopf, die wieder mit strahlenden Angst-Pop-Hymnen rechnen. Auch die Presse beginnt, sich auf Indochine einzuschießen. Zu dieser Zeit beginnen die Vorwürfe, Sirkis würde nur den Wave-Rock von The Cure kopieren. Anfeindungen, die den Sänger offensichtlich kalt lassen: Das 1990er Album nennt er "Le Baiser" ("Der Kuss"), eine Thematik, die die Briten drei Jahre zuvor auf "Kiss Me Kiss Me Kiss Me" ausufernd beackerten. Bodianski ist daran nicht mehr beteiligt. Der frischgebackene Vater habe sich um seine Familienpflichten kümmern wollen, so die jahrelange Erklärung. Jahre später gesteht Sirkis, er habe den Saxofonisten feuern müssen, weil er sich zu tief im Klammergriff der Drogen befand. Bruder Stéphane bleibt dennoch Teil der Band.
Die 90er Jahre sind eine schwere Zeit für Indochine. Die Musikwelt huldigt in der ersten Hälfte des Jahrzehnts Techno und amerikanischer Gitarrenmusik, in der zweiten Hälfte dem Britpop. Indochine passen nirgendwo rein. Zudem treten Spannungen zwischen Nicola Sirkis und Gitarrist Dominique Nicolas zutage. Die neue Bandkonstellation dient als Katalysator, aufgrund des Fehlens von Dimitri sieht sich Stéphane plötzlich in der Vermittlerrolle zwischen den Streithähnen. Der Keyboarder und Gitarrist hat allerdings eigene Probleme: Seine Drogen- und Alkoholabhängigkeit ist im fortgeschrittenen Stadium, er bestellt seine Dealer nun auch ins Aufnahmestudio ein. Das 1993er Album "Un jour dans notre vie" floppt, im Folgejahr zieht Dominique Nicolas die Konsequenzen und verlässt Indochine. Die Sirkis-Brüder machen mit dem neuen Gitaristen Alexandre Azaria weiter, doch das 1997er Album "Wax" wird zum bleischweren Ladenhüter.
1999 stirbt Stéphane Sirkis im Alter von 39 Jahren an Hepatitis. Die Öffentlichkeit ist geschockt, doch für den engeren Kreis hatte sich der Tod angekündigt, da der Musiker aufgrund seines Lebenswandels seit längerem gesundheitliche Probleme hatte. Nicolas erzählt später über diese Zeit, dass er gemeinsam mit seiner Mutter jahrelang vergeblich versuchte, Stéphane aus seiner Abhängigkeit zu befreien. Die Band existiert heute nur noch, "um ihm ein Denkmal zu setzen", so Sirkis 2003.
Im Jahr zuvor feiert er die große Wiedergeburt von Indochine. War das Album "Dancetaria", das ein halbes Jahr nach Stéphanes Tod erscheint, allenfalls ein Achtungserfolg, gerät "Paradize" 2002 zum Triumphzug. Das musikalische Verständnis zwischen Sirkis und dem neuen Gitarristen Olivier Gérard, Künstlername oLi dE SaT, der Ende der 90er zur Band stößt, verortet die Band Indochine neu und verleiht ihrem Trademark-Sound einen aggressiveren Ton. Die Art und Weise, wie Gérard zur Band kommt, zählt wohl zu den obskureren Geschichten, die die Popmusik schreibt. 14 Jahre jünger als Sirkis, kontaktiert der Nine Inch Nails- und Indochine-Fan die Band zu einer Zeit, als ihnen wenig Gegenliebe vergönnt ist. Zunächst stellt man ihn dafür an, bei Konzerten die Texte auf Sirkis' Teleprompter zu wechseln. Erst als er Remixes von Indochine-Songs anfertigt, erkennt man das musikalische Talent Gérards. Er arrangiert die meisten Songs auf "Dancetaria", bevor er als Gitarrist zum Kompositionspartner von Sirkis aufsteigt. Auf "Paradize" öffnet sich Sirkis auch im Songwriting und geht zahlreiche Kooperationen ein: Der große Hit "J'ai demandé à la lune" etwa stammt aus der Feder von Mickaël Furnon von der Rockband Mickey 3D.
Seither ist Nicola Sirkis nicht nur Songwriter und Kopf der Band, als letztes verbliebenes Gründungsmitglied verwaltet er auch das komplette Auftreten: Von der Live-Inszenierung bis zum Aufkleber auf einem Albumcover. Wenn ihn die Plattenfirma bittet, die neue Single in einer TV-Show zu spielen, wählt er auch mal ein anderes Lied. Eine Narrenfreiheit, die er sich hart erarbeitet hat. 2010 füllen Indochine als erste französische Band das gigantische Pariser Stade de France. Vier Jahre später spielen sie sogar an zwei Abenden vor 130.000 Zuschauern. 2018 nehmen sie eine fliegende Untertasse mit auf Tournee, 1700 Quadratmeter, ein riesiges Gerät aus kreisförmigen Bildschirmen, die an der Decke hängen und Bilder projizieren. U2 style. Die Tour umfasst 57 Konzerte, alle ausverkauft.
Die Zeitung Le Monde nannte Sirkis den "Peter Pan des Gothic". Doch auch dieser Zuschreibung entwindet sich der Sänger nach seinem 60. Geburtstag, als ihn Pressefotos mit wallender weißer Mähne zeigen. Eine mutige Entscheidung, mit der er sich optisch auch vom einstigen Vorbild Robert Smith emanzipiert. Nach der Nostalgie-Party mit den zwei Singles-Compilations soll 2021 nicht nur eine Tournee, sondern auch ein neues Studioalbum folgen.
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