laut.de-Kritik
Aus Schutzlosigkeit entspringt Stärke.
Review von Giuliano BenassiSie sei gar keine Folk-Sängerin, hat Joni Mitchell im Lauf ihrer Karriere immer wieder betont. Sie sei eine Malerin, die Songs schreibt. Dass auf ihren ersten Alben vorwiegend akustische Saiteninstrumente und Klavier ihre Stimme und Worte begleiten liege am Umstand, dass sie lange keinen Schlagzeuger gefunden habe, der ihre Ideen umsetzen konnte. Das änderte sich erst, als sie 1974 ihre jazzige Phase einläutete.
Doch davor wurde sie zu etwas, was sie gar nicht vorhatte – die talentierteste Folk-Sängerin ihrer Generation und das musikalische Vorbild vieler Musikerinnen, die nach ihr kamen.
Leicht hatte es die gebürtige Kanadierin nie. Mit acht Jahren erkrankt sie an Polio, muss um ihr Leben bangen und lange Zeit im Krankenhaus verbringen. Die Krankheit verursacht eine Steifheit der Hände, die es ihr später unmöglich macht, Gitarre auf traditionelle Art zu spielen. Sie behilft sich, indem sie sie umstimmt und auf die meisten Konventionen verzichtet.
Mit 21 wird sie schwanger. Der angehende Vater macht sich aus dem Staub, nach der Geburt gibt Mitchell ihre Tochter zur Adoption frei, da sie sich nicht der Lage sieht, sie großzuziehen. Wenige Wochen später lernt sie den Sänger Chuck Mitchell kennen, der ihr verspricht, dass ihre Songs in den USA besser aufgenommen würden. 1967, zwei Jahre nach ihrer Hochzeit, lassen sie sich scheiden. Sie zieht erst nach New York, dann nach Kalifornien, wo sie tatsächlich rasch Erfolg hat.
Mitchells Liebesleben bleibt turbulent. Als sie 1970/1971 das Material schreibt, das auf "Blue" zu hören ist, geht ihre Beziehung zu Graham Nash in die Brüche. Ihm folgt James Taylor, kurz ihre große Liebe, bevor er sie unvermittelt im Stich lässt. Der Name des Albums wurde mit einem möglichen weiteren Lover in Verbindung gebracht, David Blue, doch Mitchell hat diese Interpretation verworfen.
Blau ist jedenfalls das Cover, blau auch die Stimmung ihrer fünften Studiomühe. Mit Blues hat sie wenig zu tun, eher mit dem Höhen und Tiefen eines Lebens, das Mitchell mit allen Sinnen lebte und musikalisch umzusetzen wusste. "Naked" hätte als Titel ebenso gut gepasst, offenbart sie doch in den zehn Stücken ihre innersten Ängste und Wünsche.
" I am on a lonely road and I am traveling / Traveling, traveling, traveling / Looking for something, what can it be", singt sie gleich in den ersten Zeilen. Es ist eines von drei Stücken, in denen sie ihre schwierige Beziehung zu Taylor thematisiert. " All I really really want our love to do / Is to bring out the best in me and in you too", doch erzählt auch von Streitereien und Eifersucht. In "Blue" erwähnt sie Taylors Heroinsucht, in "This Flight Tonight", schwankt ihre Stimmung nach einem Treffen zwischen Euphorie und Depression.
Wie eng die Beziehung zwischen ihnen war, zeigt sich an der Art und Weise, wie Taylor Mitchell auf der Gitarre begleitet. Das ist alles andere als einfach, da ihre Musik von unüblichen Akkordfolgen geprägt ist. Auch setzt sie oft Sus-Akkorde ein. Später treibt sie brillante Musiker wie Wayne Shorter, Pat Metheny oder den unübertroffenen Bassisten Jaco Pastorius mit ihren Anforderungen in den Wahnsinn. "So spielt man nicht" - ein Satz, den sie sich öfters anhören muss.
"Da ich mir das Spielen selbst beigebracht habe, nenne ich Sus-Akkorde 'fragende Akkorde'. Sie beschreiben komplexe Gefühle. Sie tragen Fragen in sich. Mein ganzes Leben war voller Fragen. Werde ich diese Krankheit überleben? Werde ich jemals wieder gehen können? Wo ist meine Tochter? Geht es ihr gut? Werden wir die Atombombe abwerfen? Werden sie es tun tun? Werde ich jemals einen Seelenverwandten finden?" So schreibt Mitchell 2014 in einem Essay.
Sie lässt sich nicht beirren und erschafft so Lieder, die sich absetzten und den Hörer nicht mehr loslassen. So etwa "River", auf dem sie sich am Klavier begleitet und mit der Melodie von "Jingle Bells" spielt. Mit ihrer hohen, vibrierenden, sonoren, Kapriolen schlagenden Stimme sehnt sie sich zurück ins winterliche Kanada und zum "best baby that I ever had" – das Kind, das sie zur Adoption freigegeben hat. Damals noch ein gut gehütetes Geheimnis, das eine damalige Mitbewohnerin erst 1993 preisgibt.
Ein trauriges Stück, das sich im Laufe der Jahre zum Weihnachtsklassiker gemausert hat. "It's coming on Christmas / They're cutting down trees / They're putting up reindeer / And singing songs of joy and peace / Oh I wish I had a river / I could skate away on", lauten die ersten Zeilen. Auf der Suche nach Besinnlichkeit, weg vom Konsumtrubel könnten man meinen. Eine Interpretation, die der stets streitbaren Mitchell nicht misfallen dürfte, bedeutet sie doch verlässlich fließende Tantiemen. Auch wenn sie nie umgesetzt hat, was sie im selben Song ankündigt: "I'm gonna make a lot of money / Then I'm going to quit this crazy scene."
Teil der verrückten Szene im Laurel Canyon bei Los Angeles, der sie damals angehört, ist auch Stephen Stills, der sie auf dem fröhlichsten Stück des Albums "Carey" begleitet und die Stimmung seiner Band CSNY mitbringt. Doch so harmonisch wie die Zusammenarbeit mit Taylor klingt, ist sie nicht. Ihre Beziehung ist auch nur von kurzer Dauer.
Weitere Gastmusiker auf vereinzelten Stücken sind Sneeky Pete (Pedal Steele) und Ross Kunkel, der Schlagzeug und Percussions so sacht bedient, dass man genau hinhören muss, um sie wahrzunehmen. Wie schon zuvor kümmert sich Henry Lewey um die technische Umsetzung von Mitchells Ideen, die die Produktion selbst in die Hand nimmt. "Ich kann nicht mit Produzenten arbeiten. Das habe ich schon früh festgestellt. Sie führen sich herrisch auf und folgen Moden ... ich habe Musik nie als Gewinn oder Verlust gesehen. Musik ist keine Sportart", erklärt Mitchell 2014.
So ist "Blue" eines von mehreren ihrer Alben, die das Prädikat 'zeitlos' besitzen. Auf vier Stücken begleitet sie sich am Klavier ("My Old Man," "Blue," "River," "The Last Time I Saw Richard"), auf "Little Green" (wieder ein Lied über ihre Tochter) mit der Akustikgitarre. Auf den restlichen spielt sie neben Gitarre auch Dulcimer (eine Zither-Art).
Im abschließenden "Last Time I Saw Richard" trifft sie ein letztes Mal ihren Ex-Mann Chuck, "in Detroit in 68". Er ist verbittert, trinkt zuviel und erklärt, dass Liebe nur etwas für Träumer sei. Er sei verheiratet, meint die Autorin, "to a figure skater / and he bought her a dishwasher and a coffee percolator." Nun trinke er zuhause und lasse alle Lichter brennen, um seine Ängste zu verdrängen.
Sie dagegen habe die Kerze am Tisch des Cafés, in dem sie gerade sitzt, ausgeblasen. "All good dreamers pass this way some day / Hidin' behind bottles in dark cafés / Only a dark cocoon before I get my gorgeous wings and fly away / Only a phase these dark café days."
Auch in den finstersten Stunden besteht noch Hoffnung, so das Fazit. Tatsächlich findet Mitchell Jahre später ihre große Liebe, wenn auch nicht die endgültige. Das Thema beschäftigt sie noch viele Jahre. Wer sich dafür interessiert, dem sei die wunderbare Retrospektive "Love Has Many Faces" (2014) nahe gelegt, die Mitchell persönlich zusammengestellt, illustriert und kommentiert hat.
"Auf 'Blue' gibt es im Gesang kaum einen unehrlichen Ton. Zu jenem Zeitpunkt in meinem Leben hatte ich jeglichen Schutz verloren. Ich fühlte mich wie die Plastikfolie um einer Zigarettenschachtel. Ich hatte keinerlei Geheimnisse und konnte niemanden vormachen, stark zu sein. Oder glücklich. Das Gute war, dass diese Schutzlosigkeit auch die Musik prägte", erklärte Mitchell 1977 in einem Interview mit dem Rolling Stone. Das ist genau der Grund, weshalb "Blue" ein so außerordentliches Album ist.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
10 Kommentare mit 12 Antworten
Gerade gestern erst wieder gehört - auf jeden Fall eins der besten Folk / Folk rock Alben überhaupt. Die unzähligen Indie folk-Klimperer unserer Tage gäbe es ohne "Blue" wahrscheinlich gar nicht (ob das allerdings ein großer Verlust wäre, sei mal dahingestellt). Eine würdige Rezension zu einem verdienten Meilenstein!
Phantastisch!
5 Punkte, sollte klar sein, aber viel zu viele Erinnerungen und Emotionen. Kann ich nicht hoeren.
bist du dazu etwa nicht von bett zu bett gesprungen ?!
Meine Gebete wurden erhört. Das traurigste, intimste, schönste Folkalbum, das ich kenne.
Auch andere ihrer Alben wie "Mingus", "Hejira" und "Clouds" hätten ebenso das Etikett Meilenstein verdient.
Wohl eher "Court and Spark". "Hejira" war zwar ihr letztes durchgehend starkes Album, war aber schon kein Meilenstein mehr.
"Court & Spark" ist so ein Zwischending, aber sicherlich eins ihrer zugänglichsten Werke, bei dem mir immer die intime Schönheit früherer Alben und der gewisse Biss und Experimentiergeist der späteren Alben fehlte.
"Hejira" und "Mingus" sind rein musikalisch auch eine andere Baustelle. Ersteres lebt mehr vom Blues, letzteres mehr vom Jazz(rock). Beide zählen zu meinen Lieblingsalben von ihr.
Für mich ist "Court and Spark" eher die perfekte Symbiose aus beidem. "Hejira" gehört auch zu meinen Lieblingsalben von Mitchell, "Mingus" hingegen in die Kategorie "fehlgeschlagene Experimente".
Ich gebe mal offen zu, dass ich weder mit ihrem "Mingus'-Jazz noch mit dem für mich teilweise zu sehr in den Country abdriftenden "Court and Spark" viel anfangen konnte (sind allerdings ziemlich alte Eindrücke). "Hejira" ist großartig, im Vergleich zu "Blue" erfrischend leicht und einer der besten Reisebegleiter, die ich kenne.
Was passt besser, als mit "Refuge Of The Roads" über einsame Landschaften zu fahren. "Blue" ist auch mehr so ein Liebeskummerding.
Das Thema Beziehungen zieht sich aber sowieso wie ein roter Faden durch ihr Werk, speziell auf Blue.
Ein Tropfen auf den heißen Stein des auffälligen Frauenmangels in dieser Rubrik.
Wen interessiert das schon? Vor allem in dieser Rubrik.
Frauen sind halt auch in der Musik (wie in den meisten anderen Gebieten) schlechter als Männer. #yolo
Wenn Blödsinn oft genug wiederholt wird, dann finden sich genug Menschen, die ihn für die Wahrheit halten.
Stimmt, das gilt v.a. für die feministische Propaganda. #swag
Diese Frauen da sollten sich einfach mal den Sand aus der Vagina kehren.
Was soll man sagen? Meisterwerk. Klassiker.