laut.de-Biographie
Joni Mitchell
Joni Mitchell gilt als eine der einflussreichsten Künstlerinnen der 68er-Generation. Ihre kompromisslose Haltung im Sprengen von Genregrenzen bringt ihr diesen Ruf ein, ebenso wie ihr furchtloses Experimentieren mit ihrer künstlerischen Identität, wie wir es später bei Björk und Madonna wieder erleben.
Mitchell kommt am 7. November 1943 als Roberta Joan Anderson in Fort MacLeod im kanadischen Alberta zur Welt. Als Kind einer Lehrerin und eines Offiziers der kanadischen Luftwaffe wächst sie in verschiedenen militärischen Einrichtungen auf, in die ihr Vater immer wieder versetzt wird. Die vielen Ortswechsel rächen sich auf körperlicher Ebene: Joni erkrankt häufig und zieht sich innerlich zurück. Mental verarbeitet sie ihre Lebensumstände mit Malen, Lesen und Sich-Geschichten-Ausdenken.
Mit sieben Jahren erhält sie für kurze Zeit Klavierunterricht. Das Instrument beeindruckt sie aber nicht nachhaltig, nach 18 Monaten lässt sie es wieder sein. Mit neun Jahren erkrankt sie an Polio. Im Krankenhaus singt sie für andere Kinder und legt damit den Grundstein ihrer Karriere als Sängerin und Gitarristin.
Das Gitarrespielen bringt sie sich selbst bei. Darin liegt vermutlich auch der Grund für ihren erfindungsreichen Umgang mit verschiedensten Methoden, eine Gitarre zu stimmen. Wer Joni Mitchell-Songs nachspielen will, scheitert regelmäßig an diesem Umstand.
Ihre Schulzeit verbringt sie auf dem Kunst-College in Calgary, Alberta, wo sie neben der Musik ihre Leidenschaft für das geschriebene Wort und das Zeichnen weiter entwickelt. Mit einer Ukulele macht sie zudem den Campus unsicher, allerorten interpretiert sie Pete Seeger-Songs.
1965 heiratet sie den Folk-Sänger Chuck Mitchell. Obwohl die Ehe nur ein Jahr hält, verdankt sie ihm ihren Künstlernamen Joni Mitchell. Ihr erstes Kind, das sie in dieser Zeit zur Welt bringt (Chuck ist nicht der Vater), gibt sie zur Adoption frei. Diesen Fehler und das dazugehörige Trauma versucht sie in zahlreichen Songs aufzuarbeiten. Erst 1997 findet sie ihre leibliche Tochter wieder.
Die Folksongs, die sie während und nach der Zeit mit Chuck schreibt, finden schnell ihren Fankreis und führen sie für einige entscheidende Auftritte nach New York. 1967 unterschreibt sie dort ihren ersten Plattendeal bei Reprise Records.
Ein Jahr später erscheint ihr Debütalbum "Song To A Seagull", produziert von David Crosby. Er ist es auch, der sie in den Hippie-Adel der Endsechziger einführt. In der Zeit der freien Liebe entwickelt sich zudem eine Dreiecksbeziehung mit Mitchell, Crosby und Graham Nash, die in der Gründung von Crosby, Stills, Nash & Young mündet.
Auf ihren ersten vier Alben bleibt Mitchell mit wachsendem Erfolg dem Folk-Genre treu. 1969 erreicht ihre zweite Veröffentlichung "Clouds" erstmals die Top 40. Es folgen "Ladies Of The Canyon" (1970) und "Blue" (1971), die jeweils die Ergebnisse der Vorgängeralben toppen. Dank ihrer Erfolge avanciert sie gleichzeitig zur First Lady des Folk und zur Zicke der Hippie-Aristokratie, was folgende Überlieferung bestätigt:
"Sie war ein unglaublicher Snob. Wenn sie etwas zu trinken haben wollte, wandte sie sich an einen anderen Star, der dann einem gewöhnlichen Sterblichen mitteilen musste, dass Joni Mitchell Durst habe. Mit jemandem, der nicht berühmt war, hat sie gar nicht geredet. Das hätte ihre Aura so sehr beschädigt, dass sie ihre so übermenschlichen Gedanken nicht mehr hätte denken können."
Vor allem "Blue" markiert mit seiner schonungslosen Offenheit in den Texten einen ersten Höhepunkt Mitchells Karriere. Zugleich erkennt sie die Mechanismen des Showbiz, die sie seither bitterböse kommentiert. In der Folge wendet sie sich von ihrer klaren Folk-Orientierung ab und wagt sich an Popmusik-Formate.
Ihr Hit "You Turn Me On, I'm A Radio" aus dem 72er Album "For The Roses" legt davon ein erstes beeindruckendes Zeugnis ab. Seine Entstehungsgeschichte liest sich wie eine Gebrauchsanweisung zum Erfinden von Hit-Singles. "Ich hatte noch nie einen Hit, also habe ich mir einen gebastelt. Meiner Meinung nach gibt es mehrere Methoden, um die Chance auf einen Hit zu verbessern. Vorne und hinten braucht man einen langen Ein- und Ausstieg, damit die DJs im Radio drüberquasseln können. Als Thema nehme man eine zärtliche Situation und beschreibe sie so, dass die DJs sie auch verstehen. Ein bisschen schräg muss es auch sein. So etwas hab' ich dann geschrieben."
Vom Popzirkus hat sie allerdings schnell die Nase voll und widmet sich fortan jazzigen und experimentellen Musikfassungen. Einen ersten Meilenstein dieser Neuausrichtung markiert das Album "Hejira" (1976), auf dem der Weather Report-Bassist Jaco Pastorius den Viersaiter zupft. Für das Folgealbum "The Last Waltz" engagiert sie neben den Jazzmusikern Wayne Shorter und Larry Carlton auch Chaka Khan.
Kurz nach der Veröffentlichung wendet sich der todkranke Jazzbassist Charles Mingus mit der Bitte an sie, zu seinen aktuellen Songskizzen Texte zu verfassen. Er erlebt das Ergebnis ihrer Bemühungen nicht mehr. Trotzdem erscheint 1979 "Mingus", das sich monatelang in den US-Charts hält.
Nach einem Live-Doppel-Album verabschiedet sich Mitchell auch vom Jazz und gibt sich dem Mainstream-Rock hin. "Wild Things Run Fast" (1982) kennzeichnet den Beginn dieser Periode. Aber auch in diesem Genre fühlt sie sich von den Gegebenheiten ausgenutzt:
"Ich wäre genauso glücklich, nur noch zu malen. In der Rockmusik wird man aufgebaut, um niedergemacht zu werden. Es ist wie mit der Architektur in Amerika. Man baut etwas, lässt es zehn Jahre stehen und reißt es ab, um irgend etwas Neues hinzusetzen."
Anfang der 1990er widmet sie sich deshalb zunehmend der bildenden Kunst und plant ihren Abschied von der Bühne. Sie erhält sie zahlreiche Ehrungen für ihr Lebenswerk und wird in die Rock'n'Roll Hall Of Fame aufgenommen.
Den Award-Rummel kommentiert sie derweil gewohnt entrüstet: "Das Musikgeschäft macht mich krank. Es ist ein Witz. Kannst du es ertragen, dir eine dieser Preisverleihungen anzuschauen? Wo sind die Erwachsenen? Wo ist die Qualität? Nichts als nölende, quietschende Kleinkinder, und alle sind überzeugt, sie seien das Größte, das die Schöpfung jemals hervorgebracht hat. Genau wie der Abschaum, der heutzutage das Business kontrolliert. Ich schäme mich, dazuzugehören."
Trotz anhaltender Showbiz-Müdigkeit, die sie bei jeder Gelegenheit proklamiert, veröffentlicht sie auch im neuen Jahrtausend Alben, die die Erinnerung an sie wach halten. Genauso, wie es die zahlreichen Interpretationen ihrer Songs tun. Alleine von "Both Sides Now", aus ihrer ersten LP, gibt es inzwischen über 50 Interpretationen.
2007 veröffentlicht sie mit "Shine" ihr letztes Album mit neuem Material. 2014 erscheint die liebevolle Zusammenstellung "Love Has Many Faces", mit einem Selbstporträt als Cover. Ihre Werke verkauft sie nicht und sie sind selten zu sehen, sie hängen an den Wänden ihrer Häuser in Los Angeles und Kanada. 2015 erleidet sie ein zerebrales Aneurysma, das sie an den Rand des Todes führt. Mitchell kämpft sich zurück ins Leben - zwar verliert sie ihre Gesangstimme weitgehend, lernt aber allmählich wieder zu laufen.
Nach einem vorherigen Tribute-Album (2007) unter Beteiligung ihres Zeitgenossen James Taylor, treten James, Chaka Khan, Country-Grandseigneur Kris Kristofferson, Norah Jones, Diana Krall, Graham Nash, und viele weitere 2019 zum neuerlichen Tribute "Joni 75: A Birthday Celebration" unter Regie von Brandi Carlile an. Seal übernimmt darauf "Both Sides Now.
2020 bildet "Archives – Vol. 1: The Early Years (1963–1967)" den Auftakt einer neuen Veröffentlichungsreihe, die ihren musikalischen Werdegang ausführlich ausleuchtet, mit Demoversionen, alternativen Studioaufnahmen, Livemitschnitten und wie gewohnt üppig gestalteten Booklets. 2021 folgt mit "Archives Volume 2: The Reprise Years (1968–1971)" der Überblick ihres Durchbruchs, inklusive des Albums "Blue".
2022 überrascht die einstige 'Newport'-Newcomerin des Jahres 1969 auf demselben Festival mit einem einzelnen und nicht angekündigten Auftritt. Ihre Band umfasst unter anderen Taylor Hawkins, Marcus Mumford, Afrofolk-Funkerin Allison Russell, Blake Mills (Gitarrist und Produzent z.B. von Laura Marlings "Semper Femina"), Phil und Tim Hanseroth aus Brandis Band, an Bass und Dulcimer-Zither, und zahlreiche Background-Sängerinnen. Mit dem Mitschnitt "At Newport" meldet sich Joni somit kurz vor ihrem 80. eindrucksvoll zurück.
1 Kommentar
ja..das ist joni mitchel..die einem schonungslos verweigert, die erwartungshaltungen zu erfüllen, die mancher fan an sie hat. von wegen wie das neue album zu klingen hat oder welche musik sie machen sollte. sie war nie festzulegen, und hat die grenzen zwischen den musikstilen nie akzeptiert. das finde ich toll. dazu haben viel zu wenige den mut. aus lauter angst, nicht mehr soviele einheiten zu verkaufen.. aber noch feiger sind die plattenfirmen, die das erfolgreiche bis zum erbrechen vervielfältigen, ohne zu merken wie sie uns (die hörer und käufer) damit nerven und anöden (wenigstens mich).