laut.de-Kritik
What a word flow!
Review von Philipp KauseWer mit einer 15-Minuten-EP einen Grammy kassiert hat, und das noch beim Debüt, braucht sich im Grunde nicht mehr anstrengen. Entsprechend tiefenentspannt hört sich "Gifted" an, das nun 29 Minute kurze Longplay-Debüt von Koffee aus den "West Indies", der Karibikinsel Jamaika. Aus Spanish Town, oder "Spaintown", wie sie's im Titellied nennt. Anspieltipp "Lonely" schmiegt sich am jamaikanischsten an One Drop und Soul-Reggae an. Wo sie herkomme, das sei ihr wichtig, sagt "Where I'm From". Gerade in diesem Stück, für sie eine neue Hymne ("a new anthem!") muss sich das Publikum beim Zuhören anstrengen, um ihre Worte hinter dem laut gemischten Musikbett zu verstehen.
Für alle anderen Tracks gilt: Das Beatmaking wirkt generisch statt organisch, folktronisch bis dance'ig, austauschbar. Diese Unterleger kranken am Phänomen, das Kollege Mirco Leier bereits für Jorja Smith beschrieben hat: Da hat mal jemand eine sehr wiedererkennbare Stimme, die sich aus einem Nachbar-Genre auf R'n'B-Territorium begibt (Jorja aus dem Neo-Soul, Koffee aus dem Raggamuffin), und dann ziehen dünne und skizzenhafte Musikbetten etliche Energie von den Vocals ab.
So wären zum Beispiel die abgeschnittenen Resonanz-Tiefen der Bässe in "Lockdown" relativ tödlich für Party-Vibez in einem Dancehall-Set. Aufgrund der fehlenden Parties und der Sonderstellung des Themas sind solche Details wohl unbedeutend, die UK-Charts sogen die Nummer auf. "Chattin' on facetime (...) Chillin' in apartment", damit identifizierten sich viele.
Die unbeschwerte Intonation der 22-Jährigen filtert man schnell aus jeder Playlist heraus. Ihre maunzige Stimmlage in mitunter recht tiefen Ebenen und ihr rauschender Wortfluss punkten mit Souveränität und Wokeness. Eigentlich. Einer charakterstarken Stimme schenken wir wohl intuitiv mehr Gehör, wenn sie zu einem ungehörten, fantastischen Sound erstrahlt. Wahrnehmung sucht Muster, will Stimmigkeit. Die fehlt hier. Daran ändert und manipuliert selbst ein noch so schnuckliges und zugleich aufdringliches Saxophon-Solo wie in "Pull Up" kaum was, wenn es gestelzt und oben drauf gekleckst wirkt.
Sich den "Redemption Song" als Verlegenheitsmelodie zu krallen, beeindruckt genauso wenig, wenn dabei Electropop rauskommt. Weder Fisch noch Fleisch. Denn schleicht ein beliebiger bis defensiver Riddim unter dem Sing-Jaying, verbraucht sich der Hinhör-Reiz rasch, dann sind die Lieder schnell 'durch'. Zweifellos, "Shine" bounzt als die perfekte R'n'B-Hymne, sehr cheesy, aber wer hört das wohl in einem Jahr noch?
Zu erzählen hat der Shooting-Star inhaltlich kaum Neues (Dankesreden an Friends'n'Family, Cannabis, Quarantäne, berauscht sein an sich selbst), trägt es aber mit einer neugierig machenden wuchtigen Fließkonsistenz und Stoßkraft vor, so dass man sich den Silben-Kaskaden kaum entziehen kann. Da reißt schon das (unter eine Minute) kurze Intro "Defend" mit, das locker genug Text für vier Minuten enthält. Die Kaffeetrinkerin fasst ihre eigene Rolle als "Liebling der Regierung" zusammen, und da merkt man schon den Unterschied zu Deutschland: Olaf Scholz hat sich bisher auf keiner Zoe Wees-Release-Party blicken lassen, in Jamaika ist jeder Release mit internationalen Hit-Chancen ein Politikum (gilt auch für Todesfälle, nicht nur für Upcoming Artists). Die Ragga-Lady kokettiert, dass sie das nicht nötig habe ("Koffee nuh haffi be the government favorite").
Wo der Youngster karrieretechnisch hin will, ist mehrmals Thema: "next year platinum" und noch 'nen Grammy, um die eigene Mama stolz zu machen. Zentrale Textstelle auf der CD ist "Pull up inna the Audi, yeah / I nah watch nobody, yeah / Pull up inna the Cartier / I nah watch nobody but you / Pull up inna the Lada / But me have the Benz and the Prada / And a couple brand-new other..." Während die Künstlerin im deutschen Riddim-Magazin klar stellt, dass Materielles sie kaum tangiere.
Markenwahn und Konsumsucht seien aber nun mal Themen, mit denen sich junges Auditorium einfangen ließe. Als Köder-Track dient daher "Pull Up". In "Run Away" sitzt die Generation Z-Vorreiterin mal im Benz, mal in einer Boeing. Unübersetzbar spittet sie in "West Indies": "Regular me full the Benz and top it up!"
Ihr genialer 'Word Flow' schreit nach einem Sounddesign, das diesen parieren kann. Und nach den relativ wasserdicht durchproduzierten Kollabos mit Walshy Fire 2019 hätte man etwas Schnittfesteres von ihr erwartet als die vergängliche Bläschen-tropft-auf-nasses-Hölzchen-Ästhetik der neuen "Gifted"-Tunes. Soft blubbernde Afrobeats-Elemente in "West Indies" passen da am besten, auch die Aufmachung in "Run Away": Die ist nett, hat man bei Lumidee jedoch schon überwältigender gehört. Damals, da war Koffee drei Jahre jung. Im Hype egal. Und auch nicht schlecht, bloß eben Kalkül-Pop und kein Dancehall.
Noch keine Kommentare