laut.de-Kritik
Liebevolle Werkschau zum 30-jährigen Jubiläum.
Review von Toni HennigEs gibt nur wenige deutschsprachige Bands, die sich weltweit eine treue Fanbase erspielt haben. Lacrimosa gehören dazu. Ihre Werkschau zum 30-jährigen Jubiläum gewährt einen Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Band. Kurz vor der Veröffentlichung standen die Wahl-Schweizer bereits in China und Russland auf der Bühne. Gerade bestreiten sie Gigs in Zentralamerika. Ab Mitte April besuchen sie wieder deutsche Bühnen.
Zunächst begann alles in einem kleinen Studio in der Nähe von Basel. Der aus Frankfurt am Main stammende Tilo Wolff, der zuvor eine klassische Ausbildung an Flügelhorn und Trompete absolvierte und zudem am Piano eine gute Figur machte, nahm im Alleingang zwei Songs für sein Demo "Clamor" auf. Tilo zeichnete zudem das Cover selbst - wie für die späteren Lacrimosa-Platten auch.
Einer der Songs ist auf der Best Of vertreten: "Seele In Not" klingt in der Urversion mit stakkatoähnlicher Elektronik, dezenten Synthies und gewöhnungsbedürftigem Gekrächze minimalistischer als die Albumversion auf "Angst" (1991). Die traurigen Lyrics, die um das Leben eines einsamen Clowns kreisen, sowie der Jahrmarktsound legten den Grundstein für die weitere Entwicklung Lacrimosas. Weiterhin erlangte Tilo mit seinem Label Hall Of Sermon die volle künstlerische Kontrolle über sein Werk.
Mit "Einsamkeit" (1992) avancierte er zu einer der prägenden Figuren der Neuen Deutschen Todeskunst: "Bresso" beweist lyrisch wie musikalisch mit klassischen Piano- und Streicherklängen mehr Bedeutungsschwere als das Material des kompletten Vorgängers.
Der Geist Mozarts wird herauf beschworen. Zudem stellt 'Lacrimosa' (zu deutsch 'fließende Träne') nicht nur einen Namen dar. So heißt ein Satz im "Requiem" des Salzburger Komponisten, das er zu Lebzeiten nicht vollenden konnte. Joseph Eybler und Franz Xaver Süßmayr, einer Mozarts Schüler, übernahmen dies im Dezember 1791.
Auf "Satura" (1993) hielt eine leichte Aufbruchsstimmung Einzug, während harte Gitarrenriffs immer mehr in den Fokus rückten: Das Titelstück ertönt im satten Gothic-Metal-Gewand, garniert mit traurigen Streicher- und Pianoklängen. Mit dem Album ging Wolff auch erstmals auf Tournee und freundete sich mit der Sängerin seiner Vorgruppe Two Witches an, Anne Nurmi. Kurz darauf erwuchs aus dem Ein-Mann-Projekt eine Band in bis heute konstanter Zweierbesetzung.
Bis die Zusammenarbeit erste Früchte trug, dauerte es bis März 1995: "Inferno", das bis dato ambitionierteste Werk der Wahl-Schweizer verfügt gar über Speed Metal-Elemente ("Copycat"). Damit machte sich das Duo aber nicht nur Freunde. Alten Fans kehrten den Rücken, Kritiker zerrissen die Platte. Dabei fielen die Musik so vielschichtig und die Texte so mehrdeutig wie noch nie aus. Bestes Beispiel: "Schakal".
Im Nachhinein zahlte sich der Mut aus. Lacrimosa erschlossen neue Hörerschichten. Mit "Stolzes Herz", das auf "Zeitreise" nur in einer gekürzten Fassung erklingt, stürmten sie 1996 gar mit schnellem Geriffe und gesellschaftskritischer Botschaft in die deutschen Singlecharts.
Jedoch erweist sich die dazugehörige B-Seite "Ich Bin Der Brennende Komet" als der bessere Track, da er mehr von der sinfonischen Handschrift Tilo Wolffs lebt, gegen Ende ein tolles Gitarrensolo enthält und mit denkwürdigen Zeilen auftrumpft. Diese erscheinen aktueller denn je: "Wenn müde Zungen sich verknoten, und die Dummheit wieder zirkuliert, siegt in jedem schwachen Herz die Intoleranz ..." Der Song ist heute aus dem Live-Repertoire der Band nicht mehr wezugdenken.
Auf dem 1997 veröffentlichten "Stille", das den Faden von "Stolzes Herz" weiterspinnt, nahm schließlich Anne Nurmi eine größere Rolle im Songwritingprozess ein. "Not Every Pain Hurts", auf dem sie von schwermütigen Seemannsakkordeon begleitet wird, stammt aus ihrer Feder.
Im Anschluss wagte sich die Formation an ein größenwahnsinniges Unterfangen, für das sie sage und schreibe über 180 Musiker aus der klassischen Musik gewann. Mit "Elodia" (1999) vertonen Lacrimosa die Geschichte eines Paares in drei Akten, das sich im Leben längst voneinander entfernt hat und nach einer Verzweiflungstat im Himmel wieder zusammenfindet. So drücken der Scheibe größtenteils dunkelromantische Klänge mit starkem sinfonischen Einschlag ihren Stempel auf. Anspieltipp: Das dramatisch gediegene "Ich Verlasse Heut' Dein Herz".
Deutlich kritischere Worte fand Tilo auf "Fassade" von 2001, das auch nachdenklichere Songs aufweist, etwa "Der Morgen Danach". Der Song ist hier in der Metus Version, in einem etwas moderneren Soundgewand vertreten.
Seine romantische Seite als Texter betonte er zwei Jahre später auf "Echos" mehr denn je und schaffte es dabei, auch den südamerikanischen Markt zu erobern. Dementsprechend spendierte er "Durch Nacht und Flut" eine spanische Version, die bisher nur auf der argentinischen CD-Ausgabe enthalten war.
"Lichtgestalt" (2005) geriet dagegen deutlich straighter und rockiger, ohne dass Lacrimosa an melodischer Klasse einbüßten. Die Platte sollte ihr letztes durchgängig überzeugendes Werk bleiben.
Das restliche Material auf "Zeitreise" weist zwar handwerklich sauber gemachte Symphonic-Metal-Arrangements auf, reicht aber nicht mehr an die musikalische Versiertheit und lyrische Vielschichtigkeit früherer Platten heran. Absoluter Tiefpunkt: "Feuer", von dem in allen ästhetischen Belangen fürchterlichen "Sehnsucht" (2009), mit blutleerem Geriffe, unerträglichem Gekrächze und aufgesetzt wirkendem Kinderchor.
Die neuen Songs kommen dagegen fast wie Geniestreiche daher, selbst, wenn sie nicht uneingeschränkt für Begeisterung sorgen. "Drei Sekunden" etwa, extra für die Werkschau eingespielt, überrascht zwar mit aggressiver Ausrichtung, fischt aber dank "Oh-Oh"-Einschüben allzu deutlich in kommerziellen Gewässern.
"Im Schatten Der Sonne", der Vorbote für das kommende Studioalbum, gestaltet sich bei Weitem interessanter. Der Song verbindet die Jahrmarktatmosphäre der Anfangsjahre mit der Gesellschaftskritik von "Stille" und dem sinfonisch metallischen Stil auf den späteren Werken. Bleibt zu hoffen, dass die erstaunlich gute Nummer nicht zu viel verspricht.
Tilo Wolff brachte unterm Strich alle Songs in eine schlüssige Reihenfolge, so dass sich "Zeitreise" trotz der ein oder anderen Schwachstelle hervorragend am Stück hören lässt. Ein dickes Booklet mit vielen unveröffentlichten Fotos rundet die Best Of ab.
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