laut.de-Kritik

Eigentumswohnung und Therapie gesucht.

Review von

Es gibt mehr als genug Gründe, um Levin Liams Debütalbum "gesicht verlieren" mit Skepsis gegenüber zu treten. Schauspieler, die sich entscheiden, musikalisch durchzustarten ... das geht selten gut. Schon mit 13 übernahm Levin seine erste Hauptrolle in einem Kinofilm. Später folgten regelmäßige Auftritte im Tatort und anderen Krimiserien. Da stellt sich die Frage, ob der Zugang zur Musikindustrie mit Talent und Durchsetzungsfähigkeit oder durch Kontakte und Beziehungen erreicht wurde.

Dann wäre da noch das durchaus mit Vorurteilen behaftete Genre, in dem er sich bewegt. Deutschsprachiger Pop löst vielerorts allergische Reaktionen aus, dafür haben zahlreiche Genre-Kolleg:innen gesorgt. Gerade die Mischung aus Pop und Rap mit deutschsprachigen Texten genießt dank 01099, Zartmann, Apsilon, $OHO BANI, Symba, Edo Saiya, Paula Hartmann, Carlo5, Nina Chuba, makko in jüngerer Vergangenheit Hochkonjunktur, doch es braucht noch mehr positive Ausnahmen, um das Vertrauen in diese Musikrichtung (zurück)zugewinnen.

Nebenbei bemerkt, was soll überhaupt dieser Name, Levin Liam? Heißt der wirklich so, oder ist das ein Künstlername? Wenn es ein Künstlername ist, warum dieser? Abseits dieser oberflächlichen Betrachtung stößt man bei näherer Beschäftigung mit dem Künstler auf weitere Warnsignale. Hört man ihn singen oder rappen, fällt vermutlich als erstes seine genuschelte Aussprache auf. Er klingt, als gäbe er sich so wenig Mühe wie möglich, sich verständlich auszudrücken.

Passend dazu strahlen viele der Texte, beispielsweise die letztes Jahr veröffentlichte Kollaboration mit OG Keemo, eine große Portion Lustlosigkeit und Arroganz aus. Rappt er auf "Bee Gees" - gefühlt immer ein wenig hinter dem Beat - von der "enttäuschenden" Konkurrenz, die ihm nicht zu nah kommen soll, weil ihr Atem ein bisschen "miefig" riecht, wirkt das ziemlich großspurig und überheblich.

Jetzt wäre es ein leichtes, ihn ob der Menge an Gründen zur Skepsis zu ignorieren - oder zu verdammen. Zu dumm nur, dass Levin Liams Musik tatsächlich über fast jeden Zweifel erhaben ist.

Auf "Gesicht Verlieren" präsentiert sich der in Berlin geborene und in Hamburg aufgewachsene Künstler zunächst mal von einer anderen Seite, ganz ohne Großspurigkeit und Arroganz. Das Intro "Verseucht" beginnt mit einem verzerrten Sample eines 50 Jahre alten Folk-Songs: "I don't know if I can take it anymore", gibt die modifizierte Stimme die Richtung für den Einstieg in dieses Album vor. "Ich könnt' schon noch, ich will nicht mehr, ich mag nicht mehr / Ich glaub', ich brauch' noch mehr, es wirkt nicht mehr, es wirkt nicht mehr", singt Levin, begleitet von übersteuerten Gitarren und Keyboardklängen. Das was er da besingt, klingt nach Liebeskummer, also auf jeden Fall nach Kummer, für den es zunächst mal keinen Ausweg zu geben scheint.

Mit der Keyboardbegleitung, vermutlich ein Rhodes-Piano, geht es auf "Nicht Mehr", dem ersten Highlight des Albums, direkt weiter. Levin präsentiert seine stimmliche Range und Songwriting- und Produktionsfähigkeiten. Die Keyboardbegleitung klingt in Verbindung mit den Streichern, dem Cello, der E-Gitarre und Levins Falsetto wunderbar harmonisch. Die romantische Stimmung verfliegt allerdings schon beim nächsten Track "Rauch". Ein erster Anflug der gewohnten Arroganz ist zu spüren: "Bin eingeladen, doch ich kreuz' nicht auf / Ich glaub' nicht, dass ihr mich da braucht / Ich steh' da sowieso nur in der Ecke und rauch".

Mit "Leben Lang" und "Trauen" folgen zwei weitere ruhige Stücke, die eine extrem entspannende Atomsphäre und den schönen Einsatz von Streichern gemein haben, wobei in "Leben Lang" Keyboard und in "Trauen" Gitarre dominieren. Deutlich stärker hebt sich schließlich "Auf Den" von den bisherigen Songs ab, weil das Album endlich an Fahrt gewinnt, Levin kommt ins Flowen. "Ich lass' mir von keinem mein Gesicht nehmen / Soll'n die doch alleine über mich reden", spielt er auf den Albumtitel an, bevor er mit der Zeile "Ich glaub, ich bin der beste für den Job" auf den eingängigen Refrain überleitet.

Noch eingängiger klingt "Such Mit Mir", was wohl auch dem Mitwirken des erfahrenen Produzentenduos Miksu & Macloud geschuldet ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass es sich um einen austauschbaren Beat handelt, den man auch bei anderen Musikern finden würde, mit denen das Duo zusammenarbeitet. Die Beteiligten haben hier eine Formel gefunden, die alle bekannten Merkmale von Levins Sound - seine genuschelten Flows, das typische Rhodes-Piano und die Streicher - in einen Mainstream-tauglichen Hit verwandelt.

Textlich versteift sich Levin teilweise auf die ihn kopierende Konkurrenz, wie folgende, etwas eintönige Lines zeigen: "Lass die doch den Sound kopier'n, die kriegen ihn nicht zu fassen / Copycats, das Album hier ist meine Repercussion" ("Nicht Alles"), "Frag' dein neues Signing: Warum klingt dein Stuff wie der von mir?" ("Btw") und "Die woll'n ein'n Link zu den neu'n Tracks / Doch ich schicke nichts, weil ich weiß, dass die sonst sowas auch machen" ("Aufwachen"). Das Rappen über die trittbrettfahrende Konkurrenz hat sich ein wenig zum Signature Move des Künstlers entwickelt, so richtig gerechtfertigt ist diese Angst aber nicht.

Zum Abschluss hat sich Levin mit "Btw" und "Aufwachen" zwei handfeste Bretter aufbewahrt. "Btw", das er kürzlich begleitet von einem Orchester im Neo Magazin Royale dargeboten hat, besticht durch einen scheppernden Beat, der sich musikalisch komplett von allem bisher Gehörten abhebt. "Aufwachen" schlägt in eine ähnliche Kerbe. Das deutlich zu vernehmende Klopfen an der Tür in der Hook ist eine genauso gelungene Raffinesse in der Produktion wie das Sexion D'Assaut-Sample im Track davor. Der Frankfurter Rapper Reezy hat die Ehre, als einziger Feature-Gast aufzutreten und steuert einen passenden Vers bei.

Dass Levin Hamburger ist, zeigt die Line über seine Wohnungssuche: "BTW, ich will in eine frisch sanierte ETW". Dass Levin kein gewöhnlicher Rapper ist, zeigen Lines wie folgende: "Frag' mein'n Therapeuten, ach ne, warte, hab ja kein'n / Suche weiter Platz, weil ich will mal ein guter Papa sein". Verletzlichkeit, die Notwendigkeit von Therapie, mentale Gesundheit und das Streben danach, sich möglichst gut auf eine mögliche Vaterschaft vorzubereiten, sind nicht gerade typische Themen in Hip Hop-Texten. Aber sie klingen erfrischend.

Während Levin Liam mit "Gesicht Verlieren" insgesamt ein absolut stimmiges Gesamtkunstwerk als Debütalbum abgeliefert hat, machen insbesondere die letzten beiden Tracks Lust auf mehr. Und so selbstbewusst, stilbewusst und sicheren Schrittes, wie sich Levin bislang in der Musikindustrie bewegt, muss man sich keine großen Sorgen machen, dass er das Vertrauen zerstören wird, das er aufgebaut hat.

Trackliste

  1. 1. verseucht
  2. 2. nicht mehr
  3. 3. rauch
  4. 4. leben lang
  5. 5. trauen
  6. 6. auf den
  7. 7. such mit mir
  8. 8. nicht alles
  9. 9. als wär alles normal
  10. 10. btw
  11. 11. aufwachen

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