laut.de-Kritik

Irrwitzige Geisterfahrten auf der drogeninduzierten Achterbahn.

Review von

2010 war das Jahr, in dem MGMT mit allen Erwartungshaltungen brachen: Nach ihrem hochgejubelten Debüt wandten sie sich hippie-esker 60s-Psychedelica zu, mit der offenbar niemand gerechnet hatte.

Einige KritikerInnen wollten sich nicht damit abfinden, dass die Zeiten von Instant-Hits wie "Kids" oder "Time To Pretend" anscheinend vorbei waren. Andere feierten das zweite Werk als eines der besten Alben des Jahres, manche gar als eine der besten Psychedelica-Platten überhaupt.

Nun folgt der dritte Streich, und der erweist sich als Geistesbruder von "Congratulations", mit deutlichem Hang zur Übersteigerung des bereits eingeschlagenen Weges: "MGMT" entpuppt sich als verworrener, oft konfuser, alles andere als leicht konsumierbarer Mindfuck, der für den Freund der gepflegten musikalischen Absurdität einiges an Zuckerstücken bereit hält.

Kein einziger Smasher, kein Gassenhauer weit und breit: Jeden Song von Andrew VanWyngarden und Ben Goldwasser, den beiden Köpfen hinter MGMT, zieren andere Extravaganzen. Entsprechend taugen die ersten Vorabsingles, die von April bis September veröffentlicht wurden, kaum zu Ohrwürmern im klassischen Sinne.

"Your Life Is A Lie" entstand VanWyngarden zufolge "while tripping hard on acid by a fire". Genauso klingt er auch: wie ein einziger, heftiger Ausbruch klappernden Gitarren-, Schlagzeug- und Cowbellspiels im einfachsten Repetitiv-Rhythmus zu tief deprimierenden, ehrlichen und zugleich erleichternden Lyrics. Was hat man schon zu verlieren, wenn man im Acid-Kater feststellt, dass nichts echt ist, weder die 500 Social-Network-Freunde noch die angepasste Hetero-Zweierbeziehung? "Try not to cry, you'll survive on your own … One more time: Your life is a lie!"

Ähnlich wahnsinnig geht es weiter im Psychedelica-Chaos, das VanWyngarden und Goldwasser entfachen: geigenartige Hochfrequenztöne, lieblicher Kindergesang und digitale Entstellungen wie auf "Alien Days", das noch am ehesten dem Popsong-Schema folgt, bis hin zu vollends verspulten, aus der Form geratenen Eskapaden wie "Astro-Mancy", in dem Drums, Bass und Keys scheinbar gänzlich wirr durcheinander schwurbeln.

Formate sprengen, Schrägen ausloten: So sieht das Lieblingsspiel der beiden Künstler aus. Von ähnlicher Surrealität wie ihre Musik präsentiert sich auch das Albumcover: Es hat schon etwas Unwirkliches, wie VanWyngarden und Goldwasser dort in der prallen Sonne sitzen und stehen, der eine am Rasenmäher, der andere vor einem riesigen Wasserkanister, im Hintergrund ein abgewrackter Hair Salon. Eine typisch amerikanisch wirkende Szene, irritiert von der verstörenden Präsenz der beiden Vögel, ihrer Haltung, ihren Accessoires.

"Es würde mir wirklich Spaß machen, etliche Songs auf dem Album zu haben, die man leicht ausdehnen kann oder die Passagen besitzen, die sich live in eine tranceartige, repetitive Angelegenheit verwandeln lassen", meint Goldwasser über das Album. Das gelingt definitiv: Die Songs lassen sich problemlos in endlose Längen und Wiederholungen ziehen, abwandeln und ausweiten. Vor allem beeindruckt das vielgestaltige Klangspektrum, auf dem die beiden Musiker hin und her tändeln.

Nicht selten bewegen sie sich in ähnlichen Gefilden wie Tame Impala, wirken dabei allerdings wesentlich abgedrehter und unberechenbarer als ihre australischen Kollegen. Nur konsequent also, dass MGMT mit "Introspection" ein Cover eines Psychedelica-Klassikers von Faine Jade vorlegen. Dabei bleiben sie dem Original zwar treu, überhöhen dessen Schrulligkeit jedoch, indem sie ausführlich an der Effektbox spielen. Unter Verzerrung, Feedback, Wabern, Brodeln und neben der Spur laufenden Flötentönen wächst sich das Stück fast zu einer Lehrstunde der Neo-Psychedelica aus.

Einzig "Mystery Disease" erscheint fast wie eine Mischung aus altem und neuem Ansatz: Das Drumset stark in den Vordergrund gemischt, folgen Gitarre, Bass und Synths verschlungenen Melodiepfaden. Die Stimme klingt wie aus der Blechdose: der typische Vokaleffekt, den die beiden Amerikaner seit eh und je gern über ihre Gesangsspuren legen.

"Plenty Of Girls In The Sea" heißt die ironisch schräge Hymne an die Beatles zu "Sergeant Pepper"-Zeiten. Wunderbar heruntergeschraubt bildet "An Orphan Of Fortune" den ruhenden, gluckernden Endpunkt der extrovertierten, bewusstseinsverändernden Entladung auf "MGMT".

Das Album liefert zu keiner Zeit handliche Nebenbei-Musik. Es erfordert Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich auf den abwegig experimentellen Wahnwitz der beiden Künstler einzulassen. Einen guten Ersatz bzw. eine noch bessere Begleitung für irrwitzige Geisterfahrten auf der drogeninduzierten Achterbahn liefern MGMT mit ihrem Drittling allemal.

"I Love You Too, Death" lautet der Titel eines schön skurrilen Glockenspiels. Darin steckt nicht nur nettes Wortspiel, sondern es beschreibt vielleicht ganz gut die Haltung, in deren Geiste "MGMT" entstanden sein mag: Größenwahn, möglicherweise sogar eine gewisse Todessehnsucht darf man schon vermuten.

Mit dieser Platte killen MGMT, höchstwahrscheinlich gut kalkuliert, nicht nur jede letzte Chance auf Mainstream-Erfolg und Radio-Airplay. Die psychotrop wirkenden Stücke scheinen auch Perspektiven zu eröffnen, die über das Diesseits und das, was wir für wahr und echt halten, hinaus verweisen.

Trackliste

  1. 1. Alien Days
  2. 2. Cool Song No. 2
  3. 3. Mystery Disease
  4. 4. Introspection
  5. 5. Your Life Is A Lie
  6. 6. A Good Sadness
  7. 7. Astro-Mancy
  8. 8. I Love You Too, Death
  9. 9. Plenty Of Girls In The Sea
  10. 10. An Orphan Of Fortune

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9 Kommentare

  • Vor 10 Jahren

    Konsequente Weiterentwicklung des eingeschlagenen psychedelischen Weges, immer weiter weg vom poppigem Massengeschmack. Sehr komplexes Album, viellschichtige Melodien / Soundteppiche erschließen sich erst nach vielfachem Durchlauf. Die A-Side ist deutlich eingängiger, die B-Side wird noch einiges an Zeit erfordern. Übrigens geniales Review von Anne Nußbaum!!!

  • Vor 10 Jahren

    Diesmal hab' ich mir von vorneherein kein zweites Oracular Spectacular erwartet - und darum war ich zwar nicht so perplex wie bei Congratulations, schnell Zugang zum Album hab' ich aber trotzdem nicht gefunden.
    Mittlerweile geht's besser, richtig umhauen tut's mich aber nach wie vor nicht. Ich trauere wohl eben immer noch den Oracular Spectacular-Zeiten hinterher. Für mich tun sich Congratutlations und MGMT nichts - beide gewinnen mit der Zeit an Charme, richtig lieben werd' ich sie wohl trotzdem nie.

    (Nur um's laut.de für die verschleppte MGMT-Rezension heimzuzahlen, habe ich meinen Kommentar auch um Wochen hinausgezögert. Nehmt das, ihr Tranfunzeln!)

  • Vor 10 Jahren

    Ganz fantastische Platte, sehr stark! Bin sehr froh, daß die beiden sich von den Oracular-Spectacular-Zeiten erholt haben und auf absehbare Zeit wohl nicht mehr die Soundtracks für TV-Werbung schreiben werden. Die psychedelische Verschrobenheit der Flaming Lips, ein wenig Tame Impala und eine winzige Prise Pop ergeben die heutigen MGMT - wunderbar!