laut.de-Kritik
Anders als anderer Jazz, mit Witz, Virtuosität und Mut.
Review von Kai KoppIch bin ich kein Freund von verkopfter Musik. Musik muss für mich körperlich erfahrbar sein. Der erste Eindruck von "Alma" ist leider der eines verkopften Modern-Jazz. Wer sich von den ersten drei Minuten jedoch nicht erschrecken lässt, dem offenbart "Alma" eine sinnliche Erfahrung oberster Güte. Anspruchsvolle Jazzgenießer kommen voll auf ihre Kosten.
Wer also den ersten Schock überwindet und sich durch die zwar vertrackte, aber etwas zu überintellektualisierte Themenführung von "Principessa" hangelt, wird mit dem sensationellen Flügelhornspiel von Matthieu Michel belohnt. Laut Wolfgang Muthspiel gehört der zu den "most underrated Jazzmusicians of Europe". Und Recht hat er! Was Matthieu seiner Tröte entlockt, grenzt schon fast an Zauberei.
"Shabanac" schabernackt mit überaus inspiriertem Thema, das sich harmonisch und melodisch um eine Tonrepetition windet, wie einst Kaa, die hinterlistige Schlange aus dem Dschungelbuch, um Mogli. Mit seiner spiralförmigen Versuchung lockt das Thema. Da es schließlich nichts Süßeres gibt, als einer Versuchung nachzugeben, lassen sich die Musiker hingebungsvoll von der Genialität des Themas zu solistischen Höchstleistungen inspirieren, die letztlich in einem grandiosen Schlagzeugsolo münden, das sich über der letzen Melodieerwähnung ergießt. Formidabel, dieser Song.
Seltsam melancholisch ertönt "Phenomenon", neben "Ana" und "Alma" eine der Klavier-Soloinspirationen, die irgendwo im kaum kartierten Land zwischen Klassik und Soul lebt. "Alma", mit seinem ebenfalls klassisch inspirierten Thema und einem Klaviersolo, das ironisch und karikaturistisch überhöht vor sich hin schmunzelt, stellt Martin Reiters Ideenumsetzungsverfrorenheit unter Beweis, die bei jedem Song um die Ecke lugt.
Das einfach nur schöne und schön-jazzige "Minas Waltz" geleitet mit absolut ernst zu nehmendem Tasten- und Hornsolo über seine amerikanisch modern-jazzige Virtuosität nach Lateinamerika. Die astreinen Latin-Tracks "Pra Frederic" und "Tupinamba" (letzterer schreckt nicht vor dem Einsatz einer Mundharmonika oder Schnuffelrutsch, wie man im Schwabenland sagt, zurück), offenbart einen von Reiters Grundsätzen: Was er macht, macht er richtig, konsequent und souverän.
Aber apropos zurück schrecken - das ist es, was "Alma" auszeichnet: Martin Reiter schreckt vor nichts zurück! Will sagen, er ist open minded, er ist ideenreich und mutig. Er materialisiert abstruseste Ideen, wenn sie nach ihrer Materialisierung schreien. Er tut, was der Song verlangt, was sein Kopf ihm einhämmert, was sein Geist gebiert.
Er agiert zwar nicht nah am Wahnsinn, aber an der Tangente zum skurrilen Blick oder Einsteins rausgestreckter Zunge. Merkmale, an denen man Eigenbrötler erkennt. Um Himmels willen, ich will Martin Reiter nicht unterstellen, er sei der Albert Einstein der Musik. Das wäre nun wirklich maßlos übertrieben. Nein, ich will sagen, er ist einer, der sich nicht beugt. Keinen stilistischen Einengungen, keinen Kompositorischen, keinen Klanglichen und auch sonst keinen.
Das ist das besondere Herausstellungsmerkmal. Und das reicht vollkommen aus, um "Alma" mit dem Etikett 'anders als andere' zu versehen. Ein gutes Etikett, denn es birgt ein Herausstellungsmerkmal in sich, von dem viele andere Jazzkapellen träumen: Eigenständigkeit, Witz, Virtuosität und Mut.
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