5. Oktober 2020

"Die Spice Girls haben mein Sozialleben übernommen"

Interview geführt von

Einundzwanzig Jahre nach ihrem Solo-Debüt "Northern Star" veröffentlicht Melanie Chisholm, auch unter den Namen Mel C, Melanie C oder Sporty Spice bekannt, ihr achtes Studioalbum.

Musikalisch liefert Melanie Chisholm auf ihrem neuen Longplayer, schlicht "Melanie C" betitelt, gut gelaunte Dance-Musik, textlich geht es hingegen introspektiv zur Sache. Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Selbstermächtigung sind die thematischen Eckpfeiler des Albums, das sie mit neuem Team und über ihr eigenes Label veröffentlicht.

Dass das Album eine Dance-Platte geworden ist, ist zum Teil auch ihrer Zusammenarbeit dem Drag-Kollektiv Sink The Pink geschuldet, mit dem die Musikerin tourte und auf etlichen Pride Parades spielte. Chisholm hatte Lust zu tanzen, erzählt sie – und genau danach klingt das Album. Dass es inmitten der Covid-19-Pandemie erscheint, ist gleichermaßen Glück wie Pech. Glück, weil die Welt gerade durchaus ein wenig Ablenkung und gute Laune gebrauchen kann. Pech, weil Chisholm gerne auf Tour gegangen wäre – und zwar nicht nur als Solokünstlerin, sondern in absehbarer Zeit auch wieder mit den Spice Girls, die 2019 eine Reihe von Reunion-Konzerten feierten. Das nächste Mal vielleicht sogar in Fünferbesetzung mit Victoria "Posh Spice" Beckham? Wir trafen Melanie C zum ausführlichen Gespräch in Berlin.

Melanie, Ihr neues Album heißt schlicht "Melanie C". Es geht textlich um Selbstakzeptanz, darum, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Ich nehme an, der Titel ist also nicht zufällig gewählt?

Absolut. Ich dachte mir seit vielen Jahren, dass es an irgendeinem Punkt einmal gut wäre, ein self-titled Album zu machen. Es gab aber nie den richtigen Zeitpunkt und auch nie das richtige Album dafür. Diese Platte handelt von dieser Selbstfindungsreise, auf die ich mich gemacht habe. 2019 war so ein tolles Jahr für mich: Ich tourte mit den Spice Girls, ich tourte World Prides mit Sink The Pink – ich habe erkannt, was für ein unglaubliches Leben ich führe und was ich schon geleistet habe. Ich fand einen Punkt der Selbstakzeptanz und das war für mich sehr wichtig. Genau das wollte ich ausdrücken und damit auch andere Leute ermutigen.

War die Zusammenarbeit mit Sink The Pink, die ja nicht auf dem Longplayer enthalten ist, auch musikalisch ein wegweisender Punkt für die Entwicklung des neuen, sehr dancelastigen Songmaterials?

In mancher Hinsicht schon. Die Arbeit mit Sink The Pink war generell sehr wichtig für mich. Ich habe immer großartigen Support von der LGBTQ-Community bekommen, sowohl als Spice Girl als auch Solokünstlerin. Mit Leuten aus dieser Community eng zusammenzuarbeiten und eine Verbündete von ihnen zu sein, eine sehr stolze Verbündete, war wundervoll. Auch stilistisch war das wichtig: Es gibt in dieser Community ja auch eine ausgeprägte Clubkultur. Ich war in den letzten zweieinhalb Jahren auch als DJ aktiv. Es hat meine Leidenschaft für Dance Music wieder aufleben lassen. Ich wollte ein elektronisches Album machen, zu dem die Leute tanzen können. Ich wollte einfach feiern – und für mich ist die beste Art und Weise zu feiern immer noch, ein gepflegtes Tänzchen aufs Parkett zu legen.

Wann begannen die Arbeiten für das Album?

Das hat schon ziemlich lange vor den Proben mit den Girls [die Proben für die Spice-Girls-Reunion 2019, Anm. d. Verf.] begonnen, also Ende 2018. Ich habe auf diesem Album ein ganz neues Team – neue PR-Leute, einen neuen Agenten und ganz wichtig: einen neuen A&R, die mich auch neuen Songwritern vorgestellt hat. Ich begann diese kleine Reise wissend, dass ich ein Dance-Album machen möchte. Aber ich wusste noch nicht, wohin es thematisch gehen sollte. Es waren Mini-Schritte. Ich wusste, dass ich wieder schreiben wollte. Als Künstler*in hast du ja immer diesen Kreislauf: Schreiben, aufnehmen, promoten, touren. Das heißt, du kommst manchmal lange nicht zum Schreiben – und dann braucht es eine Weile, bis ich da wieder reinfinde. Als ich wieder mit den Girls arbeitete, wusste ich schon vorab, dass ich für nichts anderes Zeit haben würde. Vom Frühling letztes Jahr bis in den Sommer hinein gab es keine Möglichkeit, ins Studio zu gehen. Deshalb ist vieles von diesem Album noch sehr frisch, wurde Ende 2019, Anfang 2020 geschrieben. Es war toll, mit neuen Leuten zu arbeiten. Ein neuer Input, ein neuer Sound.

Sie sind ja schon seit den frühen Spice-Girls-Tagen als Songwriterin in den Credits genannt. Wie war der Schreibprozess für Sie bei diesem Album?

Ich habe es sehr genossen. Songwriting kann die magischte und erfüllendste Sache überhaupt sein – aber auch die härteste und frustrierendste. Es gab Zeiten und Songs, bei denen man sich abrackert und es trotzdem nicht richtig hinbekommt. Oft sind die Songs, die fast schon beiläufig entstehen, die besten – so, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich rauszukommen. Genau so hat sich dieses Album angefühlt. Es war eine schöne Erfahrung. Manche Alben sind schmerzhaft, dieses machte von Anfang bis Ende Spaß.

Wie sieht der gemeinsame Schaffensprozess konkret aus, läuft das alles im selben Raum ab oder werden Ideen via E-Mail, Skype und Co. ausgetauscht?

Ich hatte Glück: Das meiste war schon fertig, bevor dieses höllische Covid-19-Ding losging. Die meiste Zeit war ich quer durch London in verschiedenen Studios unterwegs. Ich habe wieder mit Richard Stannard gearbeitet, der ja bei vielen Spice-Girls-Songs mitgeschrieben hat: bei "Wannabe", "Viva Forever", "Spice Up Your Life" und einigen anderen. Es war wundervoll, wieder mit ihm im Studio zu arbeiten. Es fühlte sich vertraut an, wie ein Safe Space. Oft fühlt man sich verwundbar, wenn man im Team schreibt. Man muss sich wohlfühlen. Richard stellte mir auch neue Leute vor. Die neue Single "In And Out Of Love" wurde von One Bit mitgeschrieben, zwei jungen Typen.

Bei der ersten Single arbeitete ich mit Bryn Christopher zusammen. Es ist ziemlich zeitgemäß, mit größeren Teams zu arbeiten. Manchmal schaue ich bei anderen Künstlern die Songcredits an und denke mir: "Oh mein Gott, wie viele Leute haben denn an diesem Song geschrieben? Macht hier irgendjemand Kohle damit?" Als Solokünstlerin hatte ich oft Writing Sessions, die nur aus dem Produzenten und mir bestanden. Das habe ich immer sehr genossen, diese private Umgebung. Aber ich habe die Energie von größeren Songwriting-Teams zu schätzen gelernt. Das erinnerte mich irgendwie an die Spice Girls: Viele Leute in einem Raum.

"Mein erstes Album war einfach beängstigend"

1999 veröffentlichten Sie Ihr erstes Soloalbum "Northern Star". Wenn Sie Ihre Solokarriere heute mit dem Jahr 1999 vergleichen, worin besteht der größte Unterschied zu heute?

Mein erstes Album war in vielen Hinsichten einfach beängstigend. Die Spice Girls waren immer noch riesengroß und ich wusste nicht, ob die Leute bereit waren, ein Album von einem Solo-Spice-Girl zu akzeptieren. Gleichzeitig war ich extrem positiv aufregt, weil ich wusste, dass ich eine großartige Platte gemacht hatte – mit tollen Leuten wie William Orbit, Rick Nowels und Rick Rubin. Die Liste toller Leute auf dem Longplayer ist endlos und die Songauswahl war fantastisch. Ich glaube, der große Unterschied zu heute ist, dass ich mit der Zeit gelernt habe, all das viel mehr wertzuschätzen. Damals war das einfach eine eigenartige Zeit. Ich kam mitten aus dem Spice-Girls-Wahnsinn und startete eine Solokarriere – und das ohne mir zu überlegen, wo ich eigentlich selbst stand, was ich sein wollte. Ich rannte einfach immer weiter und ich schätze, ich rannte vor vielem auch weg. Heute fühle ich mich viel geerdeter. Ich weiß, was ich schaffen möchte – aber ich fühle mich auch sehr wohl mit dem, was ich bislang geschafft habe.

Zum ersten Mal traten Sie bereits 1998 als Solokünstlerin in Erscheinung – gemeinsam mit Bryan Adams auf dessen Song "When You're Gone".

Es war toll, diesen Schritt an der Seite von Bryan machen zu dürfen. Er ist so etabliert, geliebt und brilliant: Alleine, dass er mich gefragt hat, gab mir damals eine Menge Selbstvertrauen. Er ist noch heute ein enger Freund, eine sehr großzügige Person und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mir das Selbstvertrauen gegeben hat, auch als Solokünstlerin aktiv zu sein.

Sie haben seither verschiedene Musikrichtungen ausprobiert: Von Pop über Rock bis zu Dance. Wenn Sie sich noch vor Ihrer Zeit bei den Spice Girls hätten festlegen müssen, welches Genre hätten Sie ursprünglich am liebsten gemacht?

Ich glaube, ich wollte immer schon Popmusik machen. Als Sängerin bin ich im Pop zuhause. Aber ja, ich liebe Rock, Dance, so viele verschiedene Arten von Musik. Ich habe es stets genossen, verschiedene Genres zu erkunden – je nachdem, wie ich mich fühlte. Wenn ich mich wütend fühlte, dann hatte ich am ehesten Gitarrenmusik im Kopf. Das DJing in den letzten Jahren hat mich daran erinnert, dass ich in meinen späten Teens und frühen Zwanzigern eine Raverin war. Das hatte ich fast schon vergessen, denn die Spice Girls haben damals alles übernommen, auch mein Sozialleben. Ich habe die Kraft von Dance Musik wiederentdeckt.

Als Sie mit den Spice Girls berühmt wurden, befand sich Großbritannien ja in einer Phase, die als "Cool Britannia" in die Geschichte einging. Großbritannien war einmal mehr das popkulturelle Epizentrum, Rock- und Pop-Bands wie Oasis, Blur & Co. waren das Maß der Dinge – und die Spice Girls waren natürlich auch ein Teil dieser Zeit. Woran erinnern Sie sich besonders, wenn Sie an diese Phase denken?

Es war großartig, eine extrem aufregende Zeit in Großbritannien. Es war ja nicht nur die Musikszene, sogar politisch ging etwas weiter. Wir hatten eine neue Labour-Bewegung, die Leute fühlten sich plötzlich wieder optimistisch, wenn sie an die Zukunft dachten. Auch, wenn das vielleicht ein Irrtum war (lacht). Und wir als Spice Girls reisten um die Welt, erfüllten uns unsere Träume und trafen auf Award Shows unsere Helden. Ich liebte Blur und Oasis und wir trafen uns auf diesen Veranstaltungen ja. Man hatte schon damals das Gefühl, dass da etwas sehr Wichtiges passierte, dass man sich gerade in einer sehr prägenden Zeit befand.

Girl Power, die verschiedenen Charaktere in der Band – Sporty Spice, Scary Spice, Baby Spice etc., die Outfits: War Ihnen damals schon bewusst, wie ikonisch das popkulturell war?

Zu dieser Zeit waren wir uns unserer Wirkung überhaupt nicht bewusst. Wir wussten nur, dass es irgendwie verrückt war. Man konnte nirgendwo hingehen, ohne etwas von den Spice Girls zu sehen oder zu hören. Und wir selbst konnten sowieso nirgendwo hingehen, weil jeder wusste, wie wir aussahen. Unsere Fans waren damals ja echt sehr jung. Die Zielgruppe war wahrscheinlich so um die zehn Jahre alt. Heute sind diese Leute erwachsen, selbst Musiker*innen, Journalist*innen, Radiomoderator*innen – man trifft immer wieder Leute, die damals Spice-Girls-Fans waren. So haben wir erst rückwirkend bemerkt, wie kraftvoll das wirklich war. Letztes Jahr kam dann bei unseren gemeinsamen Shows alles zusammen. Wir waren überwältigt, wie viel Liebe, Energie und Freude uns auf den Konzerten entgegen gebracht wurde. Im Publikum waren größtenteils Frauen. Erst da wurden wir uns so richtig bewusst, wie viel Einfluss wir damals auf junge Leute hatten.

Ihre Zielgruppe mag sehr jung gewesen sein, aber bekannt waren Sie in jeder Altersgruppe. Wie haben Sie den ganz großen Ruhm damals erlebt? Gab es auch Aspekte daran, die Sie überhaupt nicht mochten?

Oh ja, absolut! Ruhm ist ein Symptom vom Erfolg. Ich finde das so seltsam, das ist in Großbritannien ja sicher so wie hier: Wir haben viele Leute, Reality-TV-Stars zum Beispiel, die nur wegen ihres Ruhms berühmt sind. Für mich ist Ruhm aber oft eher die Kehrseite des Erfolgs. Leute dringen in dein Privatleben ein, man spürt einen großen Druck. Es erscheint mir seltsam, keine Leidenschaft zu haben, die diese Sache mit dem Ruhm überhaupt erst wert sein lässt.

Verstehen Sie mich nicht falsch, berühmt zu sein hat auch tolle Seiten – aber die sind für mich kein treibender Faktor, Musik zu machen. Der besteht darin, Leute zu erreichen. Die Sache mit dem anfänglichen Ruhm war interessant, sie hat mir die Augen geöffnet. Wenn du jung bist und berühmt werden willst, denkst du nur an die positiven Seiten. Aber wie bei allen Sachen im Leben gibt es auch hier positive und negative Seiten. Diese negativen Seiten zu entdecken, wenn du erst einmal dort angekommen bist, wo du hin wolltest, kann ganz schön desillusionierend sein.

"Die Diagnose Depression war eine Erleichterung"

War es rückblickend nicht ein Segen, dass es damals noch kein Social Media gab?

Hundertprozentig. Mir tun junge Künstler*innen heute oft leid – denn wegen den sozialen Medien lastet ein Riesendruck auf ihnen. Ein großer Teil dieses Drucks stammt vom Label und vom Management, schließlich handelt es sich dabei um ein Marketingtool. Die Fans wollen an deinem Leben teilhaben, sie wollen Dinge sehen, Fotos und Videos. Aber wo hört dein Arbeitsleben auf und wo fängt dein Privatleben an? Gerade für junge Menschen kann das ganz schön verwirrend sein. Wieviel bist du bereit zu geben? Wenn du es nämlich erst einmal gegeben hast, kannst du es nicht mehr zurückfordern.

Manchen fällt dieses dauernde Teilen allerdings deutlich leichter als anderen.

Das stimmt, aber ich habe mich nie wohlgefühlt, mein Privatleben öffentlich zu machen. Mein Zuhause oder meine Tochter zu zeigen, das habe ich nie getan. Ich war nie extrovertiert – ich bin es nur dann, wenn ich auf der Bühne stehe. Jeder ist anders. Aber wenn man jung ist, trifft man Entscheidungen, die man später vielleicht bereut. Das ist ein zusätzlicher Druck, den wir als Spice Girls damals noch nicht hatten.

Diese ständige Präsenz und Erreichbarkeit nimmt doch auch eine Menge vom Popstar-Mythos weg, finden Sie nicht? Es gab eine Zeit, in der waren Pop- und Rockstars unerreichbar und das machte auch einen großen Teil der Faszination aus.

Absolut. Manchmal frage ich mich, ob das mit meinem Alter zu tun hat. Aber man denkt an Künstler wie David Bowie und hat das Gefühl, dass alles viel aufregender war, als es noch mysteriöser war.

Ich habe mich ein paar Räume weiter in diesem Hotel mal mit Liam Gallagher unterhalten – und der meinte, dass mit den Mobiltelefonen alles den Bach runterging. Knebworth 1996 sei noch cool gewesen, danach war alles nur noch "utter shite", weil jeder nur noch Handys hochhielt.

(lacht laut) Was heute echt irre ist: Du siehst im Publikum ein Meer von Mobiltelefonen. Es gibt eine Stelle bei meinen Konzerten, an der ich sage: "So Leute, jetzt stecken wir unsere Telefone in die Tasche und machen eine Erfahrung wie damals. Nur ihr und wir. Eine Performance, die es nur heute und jetzt gibt und die außer euch nie jemand sehen wird". Es ist so eigenartig: Manche Leute können das Filmen einfach nicht lassen. Die Kameras sind aber eine Barriere zwischen Künstler und Publikum und das ist schade. Vor einiger Zeit spielten wir ein ganz spezielles Konzert, eine Art Preview. Wir spielten Stücke, die noch nicht veröffentlicht waren. Also baten wir die Leute, nicht zu filmen und ihre Telefone abzugeben. Das war toll. Es ist einfach nicht gut, dass die Leute heute alles filmen. Da geht viel Magie verloren. Die Idee, dass man einem einmaligen Ereignis beiwohnt, das es nie wieder geben und nie mehr jemand sehen wird: Das ist für immer verloren gegangen.

Sie sprachen vorhin von Entscheidungen, die man später bereut: Haben Sie auch solche Fehler gemacht?

Massig. Es gibt zahlreiche Sachen, die ich heute ganz anders machen würde. Ich denke, das ist völlig natürlich, das erlebt man ja auch im Alltag, in Beziehungen. Aber man kann nun mal nicht zurückgehen und die Dinge ändern.

Sie haben ja auch ganz offen über psychische Probleme gesprochen, die der Ruhm mit sich brachte. Bereuen Sie es manchmal, das so offen thematisiert zu haben?

Rückblickend war das sehr wichtig, aber es gab definitiv Zeiten, in denen ich bereut habe, jemals darüber gesprochen zu haben. Aus dem Grund, weil ich mich selbst noch sehr verletzlich fühlte – und die Leute wollen immer wieder darüber sprechen. Wenn du dich nicht gut fühlst, kann es hart sein, wenn Leute über deine psychische Gesundheit sprechen wollen. Das kann einen schon fertig machen. Heute erkenne ich, wie wichtig das ist, wie sehr sich das Klima diesbezüglich verändert hat. Heute macht es mich stolz, offen darüber gesprochen zu haben.

Ich bin froh, dass die Tabus in Sachen mentale Gesundheit weniger werden und die Leute Hilfe suchten. Ich wusste damals gar nicht, dass ich depressiv war. Ich dachte, ich würde verrückt werden. Ich wusste nicht, was zur Hölle mit mir geschieht. Die Diagnose Depression war damals eine Erleichterung für mich – genau so wie zu wissen, dass es Dinge gibt, die mir dabei helfen, mich wieder besser zu fühlen.

Welchen Ratschlag würden Sie ihrem 20-jährigen Ich geben?

Professionelle Hilfe zu suchen. Das war es, was ich brauchte. Manchmal fällt es Leuten schwer, mit Familienmitgliedern oder Freunden darüber zu sprechen. Ich sprach gleich mit meinem Arzt darüber. Es gibt heutzutage viele Online-Möglichkeiten, es gibt viel Support. Bleibt nicht leise. Man will Leute nicht enttäuschen, anderen Leuten zur Last fallen – so fühlt man sich, wenn man depressiv ist. Diese Gefühle sind ganz natürlich. Aber es gibt Profis, die einem helfen können. Man muss diese Schande nicht fühlen.

Wenn Sie ihre eigene Diskografie anschauen: Gibt es ein Album, das sie besonders mögen – und eines, das Sie aus heutiger Sicht anders gemacht hätten?

"Northern Star" war meine erfolgreichste Platte und es war eine magische Zeit. Ich kam direkt von den Spice Girls in dieses Solo-Ding, arbeitete mit meinen Helden. Ich nahm es in Los Angeles auf und es brachte mich rund um die Welt. Ich tourte zwei Jahre lang, das war toll. Das Album, das meiner Ansicht nach etwas übereilt erschienen ist, war "This Time". Ich war damals bei Warner Music unter Vertrag und wir hatten noch Rückenwind vom Erfolg vom "First Day Of My Life". Das Label wollte unbedingt, dass ich schnell ein neues Album veröffentlichte. Stilistisch war es auch eindeutig: Es gab eine Menge Nachfrage nach Balladen von mir. Die Veröffentlichung der Platte fiel mit der Spice-Girls-Reunion zusammen. Irgendwie führte das ganze nirgendwo hin. Künstler*innen haben es mit Major-Labels manchmal durchaus schwer: Eine lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass andere Menschen besser wissen, was richtig für mich ist, als ich das selbst tue. Wenn du ein Major-Label hast, das alles finanziert, dann sind diese Kämpfe schwer zu führen. Das war ein wichtiger Lernprozess.

Den Majorlabels den Rücken zu kehren: War das ein Befreiungsschlag oder setzte es Sie noch mehr unter Druck?

Beides. Finanziell ist das schon eine große Last – auch, dass man die Infrastruktur eines Majors oder auch eines Independent-Labels nicht hat. Man muss alles selbst machen und das ist sehr stressig. Kreativ gesehen musst du dich aber vor niemandem mehr rechtfertigen und das ist sehr befreiend. Dieses Album ist eigenfinanziert. Ich habe ein neues Team um mich versammelt, deswegen fühlt sich alles sehr neu und frisch an. Wir haben uns unser Traumlabel selbst aufgebaut. Mit Leuten, die gleichermaßen erfahren wie auch mit Begeisterung dabei sind. Es kann aber schon toll sein bei einem Major: Sie kümmern sich um alles. Nur in der Minute, in der du nicht so viele Platten verkaufst, wie sie das erwarten, heißt es: "Ok, tschüss, man sieht sich!" Dann hast du Ärger.

Würden Sie jungen Künstler*innen von Major-Labels abraten?

Ich würde Künstler*innen eher raten, alle Möglichkeiten genau abzuwägen. Es gibt viele Arten, die Dinge zu machen. Für jeden ist etwas anders richtig, aber man sollte sehr vorsichtig sein. Auch hier ändert sich die Kultur gerade sehr: Früher wollte man unbedingt bei einem Major unter Vertrag sein, aber heute erkennen immer mehr Leute, dass es vielleicht bessere Möglichkeiten gibt. Deswegen mein Rat: Geht alle Optionen durch – und holt euch guten Rat, bevor ihr irgendwas unterschreibt.

Anfang der 2010er-Jahre haben Sie sich gegen eine Spice-Girls-Reunion ausgesprochen. Warum haben Sie später ihre Meinung geändert?

Ich hatte viele Phasen, in denen ich nicht mit den Mädchen arbeiten wollte (lacht). Das hatte persönliche Gründe. Ich hatte schwierige Zeiten in der Band – und der Gedanke, wieder in dieses Umfeld zurückzugehen, fühlte sich scary an. No pun intended! Als wir 2012 zu fünft bei den Olympischen Spielen auftraten war das phänomenal, eine der besten Erfahrungen, die wir als Spice Girls je machten. Danach gab es den Wunsch, mehr machen zu wollen. Victoria erklärte aber von Anfang an, dass sie nicht dabei sein möchte. Sie hat aber respektiert, dass die Mädchen weitermachen wollen.

Für mich hat es sich damals nicht richtig angefühlt, ohne Victoria weiterzumachen. Also habe auch ich mich aus den Diskussionen zurückgezogen. Ein paar Jahre später kam das Thema wieder auf. Wir sind ja immer in Kontakt geblieben. Irgendwie hatte ich zu dem Zeitpunkt meine Meinung dazu geändert, ich wollte es gerne machen. Wir hatten ein Angebot für eine Show. Ich sagte: "Das ist lächerlich, wir können nicht nur eine Show machen. Wir müssen ja auch proben – und das alles für eine Show?". Außerdem ist die erste Show nie die beste. Es wurden also fünf Shows, dann acht, dann 13 Shows daraus. Und hoffentlich wird es noch mehr Konzerte geben. Ich weiß nicht, warum ich meine Meinung änderte. Ich glaube, ich fühlte plötzlich noch mehr Liebe für die Sache, und mehr und mehr Leute sprachen mich darauf an. Es fühlte sich nach einer guten Zeit für die Spice Girls an. Es ist ein guter Zeitpunkt für die 1990er-Jahre. Leute, die damals groß geworden sind, wollen diese Nostalgie spüren.

Wäre es für Sie möglich, parallel mit den Spice Girls und als Solo-Künstlerin zu touren und zu arbeiten? Ist die Verwandlung von Melanie C zu Sporty Spice schwer?

Ich glaube, ich fühle mich seit letztem Jahr sowohl in meiner Rolle als Spice Girl als auch als Solokünstlerin so richtig wohl. Ich denke, die beiden können durchaus nahtlos ineinander übergehen. Es gibt genug Platz und Zeit für beides. Es braucht einfach genug Planung – aber ich übernehme diese Doppelrolle gerne.

Sie haben es angedeutet: Eine weitere Reunion der Spice Girls ist möglich?

Ja, das hoffe ich sehr. Wir sprechen über die Möglichkeit – es ist nicht fix, das ginge derzeit ja auch gar nicht. Ich möchte, dass es klappt, aber ich denke, vor 2022 wird da nichts passieren. Ich habe ja mein eigenes Album am Start – und mit den Spice Girls spielen wir Venues, die nächstes Jahr ohnehin bereits ausgebucht sind.

Wäre diese Reunion auch in Fünferbesetzung, also mit Victoria Beckham – denkbar?

Da wären schon seltsamere Dinge passiert!

Eine letzte Frage: Sie haben eine elfjährige Tochter. Ist sie sich bewusst, dass ihre Mutter Sporty Spice ist?

Hell yeah, glauben Sie etwa, das würde ich ihr NICHT unter die Nase reiben? (lacht). Es wäre schwer ihr zu verheimlichen, dass ihre Mama ein Spice Girl ist. Wir haben ja eben darüber gesprochen, wie präsent die Band in den 1990er-Jahren medial war. In Großbritannien ist es immer noch so, dass jeden Tag irgendein Spice Girl in den Zeitungen ist. Das ist schon bizarr. Ich habe meiner Tochter irgendwann mal ein paar Videos von den Spice Girls gezeigt, sie weiß also Bescheid. Und auf der Straße sprechen mich ja auch immer Leute an.

Sie rollt dann mit den Augen, wenn Leute Selfies oder Autogramme wollen. Und als Solokünstlerin hat sie mich ja oft auf der Bühne gesehen. Aber letztes Jahr, als sie mich zum ersten Mal mit den Spice Girls live gesehen hat, und das noch dazu in einem Stadion, war sie schon beeindruckt. Am Anfang war sie, glaube ich, etwas überwältigt. Da waren an diesem Abend alle Spice-Girls-Kinder, wir haben zusammen ja schon so einige. Mama wurde an diesem Abend definitiv um einiges cooler. Aber ein Jahr später war das schon wieder anders – und Mama war plötzlich wieder peinlich! Sie ist gleichermaßen stolz auf mich und peinlich berührt von mir, also alles ganz normal.

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