laut.de-Kritik
Wie Kurt Cobain einmal gefeuert wurde.
Review von Connor EndtZwei debil grinsende Kinder spielen mit einem zweiköpfigen Hund. Gitarren-Riffs, die so heavy klingen, dass man Angst um seine Boxen bekommt. Zeilen wie "Lay sin an' own ay like a barb/Baby freighk haybay, dee." Schon witzig, dass "Houdini" nicht nur die erste Veröffentlichung von Buzz 'King Buzzo' Osborne und seinen Melvins auf einem Major-Label war, sondern auch als das zugänglichste Album der Band gefeiert wird. Aber "zugänglich" ist bei den Melvins sowieso ziemlich relativ.
"Houdini" ist ein Biest von einem Album. "Hooch" führt den Hörer sogar noch einigermaßen sanft in die Sludge-Metal-Hölle der Band ein. Irgendwo zwischen den frühen Black Sabbath und echt abgefucktem Stoner Rock könnte man die Melvins vielleicht einordnen. Das Rückgrat der Songs bilden die fetten Midtempo-Riffs von King Buzzo und das wuchtige Gekloppe von Schlagzeuger Dale Crover. Das Booklet, das mit seinen zweiköpfigen Kreaturen aussieht wie ein Zeichentrickfilm nach dem nuklearen Fallout, weist neben Osborne und Crover noch Lori "Lorax" Black als Bassisten aus. Ihre Beteiligung am Album ist aber umstritten, Osborne gab später in Interviews zu Protokoll, dass nur er und Crover alle Songs und Bassspuren einspielten.
"Lizzy" kommt sehr eingängig um die Ecke, von den Tempowechseln oder der plötzlich einsetzenden Cowbell mal abgesehen. Mit "Going Blind" haben die Melvins ein Kiss-Cover auf die Scheibe gepackt zu einer Zeit, als die coolen Kids alle Kiss gehasst haben - nur ein weiterer Mittelfinger in Richtung Mainstream. "Honey Bucket" passt von allen Songs noch am besten in die Rock-Schublade mit seinem nach vorne gerichteten Drive und den powervollen Riffs. Osbornes Stimme erinnert dort ziemlich stark an James Hetfield von Metallica.
"Sky Pup" ist einer der seltsamsten Songs der Scheibe: brummende Bassläufe, seltsam raunender Gollum-Gesang und nahezu keine Gitarre hinterlassen beim Hören ein mulmiges Gefühl. Die wenigen Sounds, die von der Gitarre kommen, steuerte Kurt Cobain bei.
Cobain ist außerdem auf dem letzten Stück der Platte, "Spread Eagle Beagle" zu hören. Von einem Song im konventionellen Sinne kann nicht die Rede sein, wenn für zehn lange Minuten das Durchhaltevermögen der Hörer gefordert wird: seltsame Percussion-Sounds und polternde Trommeln vereinigen sich in einer Jam Session ohne Struktur oder Fahrplan. Wenn man sich darauf einmal einlässt, bekommt der Song fast schon eine hypnotische Sogwirkung. Was Cobain genau beigesteuert hat, wird wohl für immer ein Melvins-Geheimnis bleiben.
Cobain wird auch im Booklet des Albums genannt. Insofern ist "Houdini" auch ein Stück Musikgeschichte, das die Beziehung zwischen dem Nirvana-Frontmann und der Truppe um Osborne verdeutlicht. Nach dem Grunge-Hype um Nirvana war es nämlich Cobain, der den Melvins ihren ersten Majorlabel-Deal bei Atlantic Records verschaffte. Ohne die Melvins hätte es Nirvana vermutlich gar nicht gegeben: erst bei einem Konzert der Band reifte in Cobain der Wunsch, selbst eine Band zu gründen. Und auf "Bleach" ist es Dale Crover, der hinter dem Drumset sitzt.
"Houdini" wurde mit 110.000 verkauften Einheiten zum kommerziell erfolgreichsten Album der Melvins. Cobain wird auch als Producer angegeben, wobei Osborne in späteren Interviews zugab, dass Kurt die meiste Zeit nur am Schlafen und aufgrund von Drogenproblemen und Sorgerechtsverfahren gar nicht in der Lage war, aktiv am Album mitzuarbeiten. Nach zahlreichen Streitigkeiten, verpassten Terminen und latenter Unpünktlichkeit entschied sich die Band schweren Herzens dazu, Cobain als Produzenten zu feuern.
"Houdini" ist auch der Beweis dafür, dass selbst große Plattenfirmen manchmal Experimente eingehen: immerhin wurde den Melvins für "Houdini" und den beiden folgenden Alben, "Stoner Witch" und "Stag" ihre komplette künstlerische Freiheit gelassen. Irgendwann wurde es dem Major aber zu bunt, nach dem Drei-Platten-Deal endete die Zusammenarbeit.
Mittlerweile ist "Houdini" zu einem absoluten Klassiker geworden. Nicht nur ist es die perfekte Einstiegsdroge, um sich auf die Melvins einzulassen. Es ist auch ein Album, ohne das viele Grunge- und Stoner-Bands wahrscheinlich nie entstanden wären. Mittlerweile führt "Houdini" so manche Neunziger-Hotlist an, und die Melvins selbst haben bereits mehrfach das komplette Album als Live-Set aufgeführt und aufgenommen ("A Live History of Gluttony and Lust", 2006). Vor drei Jahren verlegte White Stripes-Mastermind Jack White das Album neu über sein Label Third Man Records.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare
Kleiner Nitpick: Auf "Bleach" trommelt Crover nur bei "Paper cuts" und "Floyd the barber", den Rest hat Channing gespielt. Crover hat noch auf dem "Fecal matter"-Tape und einigen EPs und Demos, die dann auf "Incesticide" gelandet sind, mitgewirkt.
Geschenkt, dass die Besprechung sich weniger um die Musik der Melvins dreht, sondern diese olle Cobain-Geschichte aufgewärmt wird, aber "CoD" und "Pigs of the Roman Empire" sind sicher nicht auf Atlantic erschienen, sondern auf Ipecac. Die beiden anderen Major-Platten sind "Stoner Witch" und "Stag".
ja, leider ist auch die Houdini nicht so stark produziert ,wie es die Songs verdient hätten. Stoner Witch gefällt mir ein Stück besser.
Eine der spannendsten Bands überhaupt. Gerade weil sie immer dann dem Publikum ans Bein pissten, wenn eine bestimmte Szene plötzlich meinte, sie cool finden zu müssen. Die Melvins machen so souverän wie kaum eine andere Band das, was ihnen gefällt.
Nicht unbedingt meine Wahl, aber nichtsdestotrotz eine legendäre Band, die jeder mal gehört haben sollte...
Eine sehr gute Einstiegsplatte in das krude Melvins-Universum. Ich halte z. B. „Bullhead“ für etwas stärker, aber das ist ja Geschmackssache.