laut.de-Kritik
Bass schiebt Stimme, Funke springt über.
Review von Philipp KauseWir stellen uns jetzt ganz dumm. Es gibt die Guten und die Bösen. "The good and the bad", wie der Jamaikaner Micah Shemaiah in "Natural Man" auf seinem zweiten Studioalbum "Still" skizziert. Gute Wesen aus der Karibik sind der stereotypen Lesart zufolge Leute wie Bob Marley, Peter Tosh, Dennis Brown - um nicht nur Tote zu verehren, wird heutzutage gerne Chronixx als Verkörperung des Guten und der 'Foundation Culture angeführt. Dementgegen stünden in diesem Modell 'gut vs. böse' die Bad Boys der Slackness-Welle (Buju, Beenie, Bounty, Capleton & Co.). Jaja, das Modell ist hochproblematisch und steht reichlich schief, aber es kursiert bis heute hartnäckig in Profi-Musikerkreisen, auch unter manch hartgesottenen Roots Reggae-Fans, und ein Körnchen Wahrheit beinhaltet es doch.
Micah Shemaiah steht ganz meilenweit an dem einen Ende, religiös bis in den letzten Reim, mehr 'Foundation Culture' war nie. Nicht mal in den allerfrühesten Marley-Tosh-Songs. Spiritualität lautet schon die Losung beim Opener, "Spiritual". Der junge Musiker aus Kingston City gehört zu einer Gruppe retro-gewandter Musiker rund um den Vinyl- und Sixties-Fan Exile di Brave. Mit dem landete Micah 2015 den kleinen Sommer-Szenehit "Eezy Breezy". Produziert wurde "Still" aber nun von den Zion I Kings. Deren Aufnahme mit international größter Reichweite war das Snoop Dogg- a.k.a. Snoop Lions-Stück "So Long" auf der legendären, Grammy-nominierten Karibik-Platte "Reincarnated".
Und, um eine Hip Hop-Analogie zu ziehen: Shemaiah und Vybz Kartel nacheinander zu hören wirkt in etwa so kontrastreich, wie wenn - sagen wir - Curse und Bushido heute noch innerhalb derselben Playlist platziert würden. Oder sogar noch krasser. Denn wo Vybz Kartel und seine aktuell schätzungsweise 815 Nachahmer auf fast nur Computersound und maximal konkrete Texte über Körper- und Fahrzeugteile setzen, wählen Micah Shemaiah und die Zion I Kings Jazz-Präzision, raumdimensionale Basstiefe, Trompete und Texte mit Stilmitteln wie Metapher, Pars pro Toto, Vergleichen.
Dub-affin, wie die gesamte Platte sich zeigt, stellt Shemaiah den meisten Tracks ganz klassisch halb-instrumentale und geschmeidigst groovende Dub-Versionen zur Seite. Zu "Natural Man" also den "Natural Man Dub" und so weiter.
Uptempo zieht der 40-Jährige die meisten seiner Roots-Nuggets durch, bevor das Ende der Platte überraschend chillig wird. Jazzig bestückt er Songs mit Flötentrillern ("Angels In Zion", "House Of Cards"), mit gelegentlichem Tusch aufs Becken, mit der Posaune, auf die ungewöhnlicher Weise mehrmals die Rolle als tragendes Melodieinstrument übernimmt. Sogar die Melodica hat, wohl im Gedenken an Pionier Augustus Pablo, einen Auftritt. Um den Background-Gesang kümmert sich eine der Vokalgruppen mit Legenden-Status: die Mighty Diamonds, auf die mit "Pass Di Kutchie" (1981) eines der bestverkauften Reggae-Lieder in Deutschland zurückgeht.
Das Titelstück "Still" knüpft stimmlich ans fast-schon-Falsett der virtuosen Twinkle Brothers an und ist rhythmisch bereits dezent folkrockig rückinfiziert mit UK-Reggae, wie er seit Steel Pulse und Capital Letters den karibischen Reggae nicht nur aufgreift, sondern zurück beeinflusst. Dreampop auf Reggae-Rhythmus mit Souljazz-Vibes, die sich wie Vibraphon anhören und doch aus dem Synthesizer stammen, machen den Track "Space And Time" sehr lovely. Dazu die charmante Tonführung im Gesang, die, so effektiv wie der Rattenfänger von Hameln die Nagetiere lockte, jeden catchen müsste, der prägnante Storyteller-Persönlichkeiten gerne zuhört. Shemaiah singt so selbstsicher, wie Gottschalk moderiert. "Wicked Babylon" macht den Eindruck, als würde Donny Hathaway einen Gregory Isaacs-Song zu Wailers-Orgel performen.
Um in alle Winkel der Texte folgen zu können, muss man mitunter wie in "House Of Cards" ausgesprochen bibelfest sein. Die weniger religiös belesene Allgemeinheit entschädigt der Singer/Songwriter mit betörend vibrierenden Bässen aus allen Richtungen und sportlich-elastischer Percussion des Echo-verzierten und resonanzsatten Sounds.
Was im Textlichen nicht ausbleibt, sind das Pflichtelement vom konfusen 'Babylon' und die Hoffnung auf Gott, Jah: "Das System wird missbraucht / du fühlst dich in der Falle / Jah könnte das Mittel haben, um es zu reparieren."
Sinnvoll ist allemal, nett zu den Nachbarn zu sein. Des Weiteren empfiehlt der Jamaikaner, sich integer statt käuflich zu verhalten. "Still" ist jedenfalls ein Album mit moralischem Anspruch und will einen ethischen Kodex vermitteln.
Das wäre wenig wert, wenn die Form nicht so unterhaltsam wäre. Originell ist, wie das Ganze rüberkommt. So arbeitet sich der Noch-Newcomer mit dem Nischen-Status zu einem handfesten Beweis seines Könnens vor, und vielleicht entwickelt sich eine fette Karriere. Das Foto auf dem Cover hat der Multimediakünstler Kush-I gemacht, Jah9s Manager ist eine Connection, die helfen könnte. Um diese außergewöhnlich starke Reggae-Produktion wird man jedenfalls bei den Jahresrückblicken aufs Genre 2021 nicht herumkommen.
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