laut.de-Kritik

Die Speerspitze des Rub-a-Dub setzt bis heute die Reggae-Maßstäbe.

Review von

Der Siegeszug des Reggae in den 1980er Jahren verdankt sich einer Häufung günstiger Umstände. In alle Komponenten sind die Mighty Diamonds verwickelt. Der Schwung jener Ära mündet 1988 ins Album "Get Ready", das dem Bandnamen Ehre erweist: Lauter mächtige, massive musikalische Diamanten!

1969 gegründet, landet 1982 eine Abwandlung des Diamonds-Songs "Pass Di Kouchie" an den Charts-Spitzen Europas. Eine englische Gruppe karibischer Einwanderer, die Musical Youth, dreht den jamaikanischen Hit aufs hiesige Publikum. In England gibt es seinerzeit eine Riesenszene. Punk und New Wave flirten ordentlich und fruchtbar mit Roots und Dub.

Das erkennt der Londoner Label-Ableger Frontline. Die Mighty Diamonds schwimmen auf der Welle dieses gut vernetzten Labels, schaffen es (anders als andere alte Jamaika-Trios) in viele deutschen Plattenschränke. Sie stehen für eine Unterart des Reggae, Frontline verlegt aber vieles: Spoken Word-, Solo-Rasta-Storyteller, Lovers Rock, knackigen Roots Reggae mit Fokus auf Keyboards, spirituellen Nyabinghi-Style. Die Mighty Diamonds entwickelten sich in einer Szene von Vokal-Trios, bei denen einer vorsang, zwei umrahmten und die Band-Instrumentalisten wechselten.

Das Modell geht natürlich auf den Motown-Soul zurück. Die Soul-Wurzeln zu hegen und zu pflegen, sich Richtung Funk, Disco, Rock, Pop, Hip Hop und Synthie-Sounds zu öffnen: Diese Amalgamisierung ist das große Erfolgsrezept des Reggae der 1980er. Es setzen Artists um, die sich schon lange in der Szene herum trieben, die mit der Zeit gingen und denen Hits gelingen, die bis heute den Maßstab setzen.

Um nur ein paar zu nennen: Third World, sogar mit Ausflügen in die Klassik, UB 40, The Specials als schwarz-weiß karierte Ska-Vorhut, Jimmy Cliff im zweiten Karriere-Hoch als Samba-Reggae- und Dance-Künstler, Eddy Grant, nebenbei Star der lokalen Londoner Soca-Szene - solche Leute machen Reggae bekannt und verkäuflich. Alle diese Artists äußern übrigens auch das Ihre zu der Situation in Südafrika damals, und hier wie auch bei der stilistischen Offenheit machten die Mighty Diamonds mit. Der Apartheid-, also "Rassentrennungs"-Verwalter 'PW' Botha bekommt bei den Mighty Diamonds eine vor den Bug versetzt, dass es nur so im Drum-Set scheppert.

Und schließlich, was Afrika angeht: Themen-Festivals schießen aus dem Boden. Auf einmal gibt es belgische, deutsche, französische Bühnen, auf denen mehrere solcher Gruppen auftreten, ganze Tage oder Wochenenden.

Viel von dieser Musik erfüllt einen extrem hohen Qualitätsstandard. Die Space-Loops und Feuerwerks-artigen Knallbonbon-Effekte aus dem Sequencer stehen produktionstechnisch in nichts dem nach, was Nile Rodgers mit David Bowie auf "Let's Dance" machte. Auf "Get Ready" findet die Verwandlung einer Musikgattung statt, ohne der textlichen Botschaft irgend etwas zu rauben, im Gegenteil: Das atmosphärische Klangdesign lenkt erst die Ohren auf das, was Tabby von den Diamonds zu sagen und zu beklagen hat.

"Another Day Another Raid": Schon der zweite Track auf der A-Seite zeichnet ein Sozialporträt der Nachbarschaft, in der der Ich-Erzähler wohnt. "Only pushers, murderers and thieves", resümiert er. Damit geht er anders als die Rapper jener Jahre vor. Wo Ice Cube selbst die Gangster-Rolle auskleidet, sind die Diamonds im Blickwinkel des olympischen Beobachters. Um aber aufzuzeigen, wie sehr sie persönlich betroffen sind und quasi Augenzeugen des gesammelten Ghetto-Crime, bauen sie immer wieder Zeilen in Ich-Form ein. Das Lied schließt mit der Erkenntnis, wer hier (am Rand Kingstons) aufwachse, erlebe keine Kindheit. "You become a man, but you never were a chi-i-ild...."

Egal ob man jetzt auf die Lyrics hört, so tragen sie doch den Lead-Sänger zu Höhenflügen, man merkt sofort, er hat eine wichtige Message im Gepäck. Und ein Slogan wie "that's how the system goes, verfängt wohl bei jedem ein bisschen.

Auch wie die beiden Background-Sänger mit ihren Harmony Vocals unterstreichen, prägt den Markenkern der Mighty Diamonds. Wie sie die Härte des Schicksals wieder weicher machen, die scharfen Worte in Choral-Watte packen, verstärken und außerdem die Lücken zwischen den Zeilen schließen und abdichten.

Dabei folgen Songs der Mighty Diamonds dem Aufbau: Problem-Skizze, Ursachen-Beschreibung, Zusammenfassung, fanfarenhafte Patterns aus Percussion und Keyboards und dann eine mehrstimmige Bitte an Gott (den Lord), bevor das Lied ins Fade-Out entschwindet. Den einzelnen Phasen Probleme - Ursachen - Lösung liegen verschiedene Instrumentierungen und Synth-Spielereien zugrunde. Somit heben sie sich musikalisch voneinander ab.

Zum Vermächtnis der Diamonds gehört ihre reichhaltige Zusammenarbeit mit dem Produzenten Gussie Clarke und ihr daraus resultierender Beitrag zum Stil Rub-a-Dub. Dabei handelt es sich um einen trockenen, treibenden Zwitter zwischen Gesang und Sing-Jaying. Überwiegend wird auf Melodien gesungen, einzelne Zeilen kommen aber Sprechbeiträgen gleich. Die Übergänge innerhalb eines Songs sind fließend.

Der Sound ist so perkussiv, dass Töne aus dem Computer, Bassgitarre und Schlagzeug alle die Funktion von Drums übernehmen. Innerhalb dieser knallharten 'Wall of Sound' stechen dann einzelne glibberig oder fiepend klingenden Reverbs heraus und sorgen für immer neue Hinhör-Effekte. Rub-a-Dub ist also ein Hybrid aus Roots Reggae und Hip Hop/Raggamuffin mit angedeuteten Spuren von New Wave und Elektronik.

Die Talking Heads ließen sich einige Male davon inspirieren, Stücke wie "The Lady Don't Mind", "Genius Of Love" oder "Slippery People" künden davon. Es überraschte innerhalb der Rasta-Szene, als in den 2010ern doch wieder Acts mit genau dieser Musik großen Erfolg bei uns und in Amerika feiern, nämlich Lila Iké und Jesse Royal. Zu den besten Acts der ersten Welle in den Eighties zählen neben Ini Kamoze zweifellos die Mighty Diamonds und Gregory Isaacs.

Isaacs hatte ebenfalls 1982 seinen internationalen Durchbruch mit "Night Nurse" erlebt. Im Song "Idler's Corner" erlebt man beide, die Mightys und Gregory, wobei die Staffelstabs-Übergabe zwischen ihnen sehr lebendig ist und das Stimmen-Ping Pong das Musterbeispiel eines gelungenen Features.

"Idler's Corner" erzählt von Antihelden des Alltags, Faulenzern, die nichts mit sich anzufangen wissen außer Rauchen, Saufen und Glücksspiel. Das auch einprägsame "Modeller" - frei übersetzt "Die Blenderin" - fällt ebenso in diese Strömung. Das Lied warnt vor einer Materialistin, "Don't think she cares about you (...) The only thing that Turns her on / is when the Dollar gets strong.".

Als weiteres amtliches Rub-a-Dub-Wasserzeichen gilt die stirring bassline, hypnotisch, durchdringend. Der Opener "School Mate" schiebt sie durch die ersten Minuten der LP. Die Diamonds sehnen sich nach Schulzeiten zurück, und tatsächlich gingen zwei der drei Sänger zusammen zur Schule.

Zur Qualität trug auch das Personal bei. So waren die besten Instrumentalisten am Werk, um aus guten Songs und guten Stimmen auch wirklich gut klingende Shows und Platten zu zaubern. An den Gitarren nutzen sie mit Willie Lindo und mit Dwight Pinkney sehr versierte Session-Musiker, denen die europäischen Rock-Hörgewohnheiten genauso vertraut waren wie jamaikanische Rhythmen und amerikanischer Funk, Soul, Blues und Gospel, Leute, die in der A-Liga internationaler Musikproduktionen oft mitgespielt hatten.

Mit an Bord auch Trompeter David Madden, der gelegentlich Bobs Wailers unterstützte. Dave und Dwight entstammen den legendären Zap Pow, der stildefinierenden Soulreggae-Band Beres Hammonds. Willie Lindo war zwar ein relativ glückloser Cover-Interpret, als Tontechniker jedoch gefragt. Er hatte ein goldenes Händchen an den sechs Saiten, genannt 'The String Picker'. Eine Schlüsselrolle kommt Dean Fraser zu, der als der Star-Saxophonist auf "Get Ready" mitwirkt, und Sly Dunbar, Schlagzeuger, der als einer der Taktgeber dem Album seinen Schliff verpasst.

Ein klassisches Pattern zeigt sich u.a. in "Tonight I'm Gonna Take It Easy". Da fällt ein Doppelschlag auf die erste Note des ersten, dritten, fünften usw. Taktes, und zwei Sechzehntel pladdern zum Abschluss des zweiten, vierten, sechsten usw. Taktes. Trickreich kombiniert man hier den unregelmäßig wirkenden 'Offbeat' des One Drop-Reggae mit dem 'normalen' Taktgefühl von Rockmusik und baut einen Backbeat-Schnörkel ein, der das Lied immer wieder hüpfen lässt, so wie auf den Straßen der 1970er und '80er die gefederte Citroën-Ente hüpfte. Diese Musik verkörpert damals ungefähr so viel Freiheit und Alternativkultur im bürgerlichen Rahmen, wie Ente, VW-Bus und Trampen in der Mobilität der Festival-Fans.

Die Mightys gehören, obwohl man ihnen ihren gecoverten Hit oft nicht zuschreibt, zur Basis des Reggae-Tour-Business in den USA und Europa ab den 1980ern, und noch 2018 erfüllten sie ihre Rolle als Pioniere, um die man einfach nicht herum kommt. Sie sangen nun mal wirklich eingängig, und sie hatten verdammt viel gutes Material von "Up On The Roof" bis zum scharfzüngigen "A Feather In A Richman's Hat".

In der Masse der extrem vielen Tonträger gibt es gleichwohl nur ein paar wirklich gut durchhörbare Scheiben ohne Füllmaterial. "Get Ready" ist so eine, nicht die bekannteste, aber eine perfekte Balance aus moderner Produktion, zeitgemäß für 1988, und Rasta-Verwurzelung.

Geschichtlich geht "Get Ready" als der erste Beweis in den Reggae ein, dass man Klavier oder Keyboards fast komplett durch Effekte aus dem Computer ersetzen kann, womit sich für die Geschichte der synthetischen Musik auf Jamaika ein neues Kapitel öffnete. Die Methoden des Loop-basierten Digital Dancehall-Riddims wurden weiter ausbaldowert und auf die eigentlich nicht für die Tanzfläche gedachte Roots-Musik übertragen. Wobei jetzt ein Teil der Tastenmusik direkt in den Aufnahme- und Misch-Tools enthalten war, wie wir es dann bei Snap! und der Eurodance-Welle kurze Zeit später kennen lernten.

Man brauchte also weder Instrumente noch Samples im Synthesizer noch zu scratchende Platten oder sonst irgend etwas, man ging mit kleinen Soundeffekt-Libraries in die Produktion und spielte Digitales und Analoges zusammen. Man benötigte keine Menschen mehr, die etwas spielen konnten. Die Grundlage für den meisten R'n'B, Urban Pop, Trap, Dancehall, Traphall, Drill, Cloud-Rap, Azonto und vieles weitere in unserer Zeit findet sich in "Get Ready" - Gussie Clarke war der erste, der es wagte, diese Technologie in einer wort- und gesangsbasierten Musik einzusetzen. Das Familienunternehmen Greensleeves/VP wollte diese Musik haben, die US-Firma Rohit als Vorreiter der Dancehall-Welle kümmerte sich um den Vertrieb in den Staaten, und in Deutschland biss die Frankfurter Bellaphon an, die sonst zu dieser Zeit vor allem mit Schlager und Prog-Rock dealte.

Das Gesangs-Trio setzte mit der fulminanten Tour-Scheibe "Live In Europe" 1989 noch einen drauf, danach gerieten die Diamonds für eine ganze Generation immer mehr in den Hintergrund, bis 2008 das Interesse an der Band wieder wuchs, so dass sie auf ihre alten Tage jeden Sommer ihre Klassiker performen durften - meist als Vertreter einer guten alten Zeit gebucht. Dabei hatten gerade sie wiederholt die Modernisierung von Reggae angestoßen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. School Mate
  2. 2. Another Day Another Raid
  3. 3. Tonight I'm Gonna Take It Easy
  4. 4. Idler's Corner
  5. 5. Cannot Say You Didn't Know
  6. 6. Sensemilla
  7. 7. My Baby
  8. 8. Get Ready
  9. 9. Up Front
  10. 10. Modeller

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