laut.de-Kritik
Verquaste Electronica für die räumliche Vorstellungskraft.
Review von Philipp KauseObwohl Mira Calix schon lange zum Londoner WARP-Label gehört und seit dem Jahr 2000 eine Reihe von Platten veröffentlichte, ist heute bestenfalls ihr Name ein Begriff. Ihr geringer medialer Stellenwert hat drei Ursachen: Zeit, Ort und Stil. Was die Zeit angeht, klaffte diskographisch vor der neuen LP "Absent Origin" eine lange Pause. Calix entdeckte Shakespeare, vertonte erst ein Sonett von ihm, dann ganze Theaterstücke. Räumlich kommt man mit ihr vor allem dort in Kontakt, wo WARP-Acts auftreten, also in England oder auf großen internationalen Festivals wie in Coachella, auf Tour etwa, wenn Boards Of Canada, Seefeel oder Autechre sie im Schlepptau mitziehen.
Ihr Stil ist Klangkunst, Avantgarde, Collagentechnik in Sound gegossen. Kleinteilig, wie Mikado als Musik, komplex, perkussiv, gläsern und plastisch, fügt Mira Skizzen zusammen. Darauf gibt die Cover-Abbildung einen bunteren Vorgeschmack, als das tatsächlich klingt. Mit Geräuschen wie von aufprallenden Tennisbällen ("Fractions fractured factions") inklusive Rap, oder mit Noise vom Charme grauer Maschinenparks ("Surrender", "Dishàng shuãng (edit)") fabriziert die 51-Jährige ihre Ton-Illustrationen. Die muten improvisiert an, fantasievoll, teils eigenartig ziellos, oft kompakt und kurz, fünf Mal unter zweieinhalb Minuten.
Propriozeption nennt man beim Nervensystem des Menschen die Fähigkeit, den eigenen Körper im Raum abzumessen und die Folgen von Bewegungen etwa in einem Ballspiel abzuschätzen. So ähnlich läuft's auch bei "Absent Origin". Es geht quasi darum zu fühlen, wo Schallwellen gegen ein Hindernis prallen und eine Gegenkraft sie absorbiert oder reflektiert (z.B. in "I'm in love with the end"). Entsprechend kann man dann beim Hören den Raum ausloten, den Mira Calix gedanklich durchmisst. Solcher Art elektronische Musik ist ein cleverer Ansatz, um bewusstere Wahrnehmung zu schulen.
Hinzu kommt, dass anders als bei manch anderer Postrock-Elektronik, die sich sowas auf die Fahnen schreibt, hier nun Witz und Pfiff regieren. Dystopisches? Hier mal nicht! Verstörendes? Ja, aber ohne Depri-Grusel. Zerstörerisches gar? Nein, Fehlanzeige! Untypisch für die aktuelle Kollektion von WARP Records von Squid über Oneohtrix Point Never bis Hudson Mowhawke wirkt das schon. Gleichwohl auch Calix dekonstruiert und düstere Töne aufeinander schichtet. Aber im Kern weckt sie Neugier statt Angst, Erkundungslust statt Beklommenheit.
Dabei führen manche Tracks durchaus crazy regellos durch desaströse Reizüberflutung: Säge-Geräusche, Knack- und Bohrlärm, hysterisch gefärbte menschliche Laute, Opernarie, Stöhnen. Amplifier-Dröhnen, Stakkato-Beats. All das purzelt durch "Bower of bliss". Trotzdem ermüdet das Sammelsurium nicht. Dramaturgie wird spürbar. Am Ende entlädt sich das Gewusel von "Bower of bliss" in einem Strahl aus dem Wasserhahn.
Calix kommt aus Südafrika, sprachlich angedeutet im Acapella-mit-Drums-Track "Nkosezane - for my daddy". Womit sie sich als Teenagerin dort zur Zeit der Apartheid befasste, ist bislang nicht bekannt. Sie bezieht aber Einflüsse in die Musikgestaltung ein, die sonst kaum jemand in der heutigen elektronischen Musik nennen würde: Wangechi Mutu, kenyanische Multimedia-Künstlerin der afrofuturistischen Strömung, zählt dazu. Außerdem: Deborah E. Roberts, feministische Collagen- und Installations-Künstlerin, Englands Bühnenbildner und Fotograf David Hockney, Eileen Gray, irisch-französische Villen-Architektin und Möbeldesignerin mit besonderem Einfluss auf die 1920er Jahre, und zum Beispiel Pop Art-Material-Verwurster Robert Rauschenberg. Die Liste ist eklektisch und geht noch lange weiter. Sie ist bahnbrechend multimedial und verrät Inspiration aus beinahe allen Kunstgattungen.
Es gibt demnach viel zu entdecken, vom Postrock-Jazz in "Fundamental things" über klavierbezogene Neo-Klassik in "Silence is silver" in Clicks'n'Cuts-Ästhetik. Von der hat das Album reichlich. Flächige Technoid-Phasen setzen sich nur am Rande durch ("Gargle (Command V)"). Den Charme von Ethnopop-Worldbeat mit Tropenwald-Flair bietet "There is always a girl with a secret". "Wooddrifts" ist sehr naturverbunden, "Doggerland (between the acts)" eine Studie der Langsamkeit, eingeläutet von einem spanisch- und englischsprachigen Spoken Word-Kommentaren zum Brexit. Die Verquastheit und wilde Flexibilität des Albums lohnt in jedem Falle einen Anhörversuch, um die eigenen Klanghorizonte zu dehnen.
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