Viereinhalb Kilo Songtexte und Stories: Der Ex-Beatle entpuppt sich als begnadeter Erzähler - und ziemlicher Pedant.

London (giu) - Ein lesenswerter Artikel in der Zeitschrift New Yorker charakterisierte Ex-Beatle Paul McCartney im Oktober 2021 folgendermaßen: "Selbst in einer Ansammlung mit vielen erfolgreichen und selbstzufriedenen Menschen steht er immer im Mittelpunkt. Seine Fangemeinde ist die breite Bevölkerung. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie Leute ihre Freude an der Begegnung mit ihm zum Ausdruck bringen - sie beschreiben ihre Lieblingssongs, fragen nach Selfies und Autogrammen. Oder verlieren völlig die Fassung." Kurzum: Paul McCartney ist eine lebende Legende.

Außergewöhnliche Menschen verdienen außergewöhnliche Formate. Während sich die meisten Musiker mit Hardcover und ein paar Fotos zufriedengeben, hat sich McCartney zwei hochwertige Bücher samt Leinenschuber gegönnt. 650 Abbildungen auf 917 Seiten, um die Texte und die Entstehung von 154 Lieder zu beschreiben, alphabetisch angeordnet. Die Botschaft ist klar: Hier geht es um das definitive Wort. "Lyrics" (C.H. Beck, 912 Seiten, gebunden, 78 Euro) wiegt viereinhalb Kilogramm und kommt, passend zum Verlag, wie ein Gesetzbuch daher. Oder wie die Bibel. Die Beatles waren auch bekannter als Jesus Christus, nicht wahr?

Oops, das war John Lennon. Womit wir beim grundlegenden Thema wären: "Lyrics" ist der Versuch McCartneys, seine Texte als etwas Großartiges darzustellen. Dass er in Sachen Melodien und Arrangements zu den Besten gehört, daran besteht kein Zweifel. Doch war es Lennon, der die prägenden Zeilen geschrieben hat. "Happiness Is A Warm Gun" etwa, "I'm So Tired", oder "Don't Let Me Down". Auch in Sachen Diss war er McCartney überlegen. "The only thing you done was 'Yesterday'", ätzte er 1970 nach der Trennung der Beatles.

John Lennon eins reinwürgen

McCartneys Antwort darauf fiel lange nicht so fies aus. "Too many people reaching for a piece of cake", dichtete er 1971, wobei er das Tortenstück (als Symbol für die wirtschaftlichen Interessen hinter den Beatles) als "Piss of cake" aussprach. "Aber das war alles sehr milde formuliert, echte Gemeinheiten habe ich nicht ausgepackt, und es ist ja auch ein ziemlich fröhlicher Song; er klingt nicht wirklich ätzend", erklärt McCartney im Buch. Er wollte Lennon "eins reinwürgen, aber ich war nicht so richtig mit dem Herzen dabei."

Er ist einfach ein netter Mensch - und ein ziemlich pedantischer: McCartney nutzt das Buch und den Rummel darum herum, um Dinge richtig zu stellen. Zwar war er es, der als erster in der Öffentlichkeit "Beatles" und "Trennung" in denselben Satz packte, doch sei es "Johnny" gewesen, der in einem internen Meeting bereits längst seinen Austritt erklärt hatte. 50 Jahre später ist das für die meisten Außenstehenden eher eine Fußnote, doch das Ende der Band beschäftigt McCartney nach wie vor.

Die Konflikte seien jedoch längst begraben, betont er. Mit Lennon habe er vor dessen gewaltsamen Tod 1980 Frieden geschlossen. So ist "Lyrics" auch eine Liebeserklärung an den ehemaligen Songwritingpartner. Mit einer weiteren Richtigstellung: Die Stücke, die sie für die Beatles geschrieben hatten, stammen offiziell von "Lennon/McCartney". Im Buch sind als Autoren angegeben: "Paul McCartney and John Lennon".

Ein begnadeter Geschichtenerzähler

Doch gibt "Lyrics" so viel mehr her. McCartney ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem zu den Liedern immer wieder etwas Interessantes, oft auch Lustiges oder Rührendes, einfällt, sei es zu der Band, seiner Solokarriere oder seinen Angehörigen. "Wenn Leute erst einmal ein gewisses Alter erreicht haben, greifen sie gerne auf Tagebücher oder Terminkalender zurück, erinnern sich Tag für Tag an vergangene Ereignisse, aber solche Aufzeichnungen habe ich nicht. Was ich habe, sind meine Songs, und eigentlich erfüllen sie denselben Zweck. Sie umfassen mein gesamtes Leben", erklärt er in großen Buchstaben auf dem Schuber, womit er das Unterfangen gut zusammenfasst.

Kein übertriebener Fan

Das Buch entstand mit dem irischen Dichter Paul Muldoon, der mit McCartney zwei Dutzend Gespräche über insgesamt 50 Stunden führte. Als Literaturprofessor und prämierter Lyriker ist Muldoon einer der wenigen, auf die selbst jemand wie McCartney in Sachen Lyrik aufschauen kann. Ihm habe gefallen, dass er "kein übertriebener Fan war, der jedes gesprochene Wort gleich in heilige Schrift überführen wollte", erklärt McCartney im Vorwort. Das mit der heiligen Schrift haben dann Umfang und Format übernommen.

Die Stücke standen fest, die Gespräche entwickelten sich jedoch spontan. So erklärt sich, dass alle Studioalben der Beatles und der Solokarriere vertreten sind. Zur Sprache kommen auch das Nebenprojekt The Fireman, in dem sich McCartney mit Youth an House versuchte, und die eher lauwarme Oper "Liverpool Oratorio". Dazu zwei Kompositionen, die McCartney für andere schrieb, "Come And Get It" (Badfinger) und "Goodbye" (Mary Hopkin). Natürlich auch "I Wanna Be Your Man", das Lennon/McCartney, sorry, Paul McCartney and John Lennon, einer befreundeten Blues-Coverband überließen.

Schade, dass die Gespräche 2018 endeten. Eine Betrachtung der Corona-Zeit wäre sicherlich interessant gewesen. Dafür hatte McCartney die Muse, im Lockdown das Album "III" umzusetzen. Dass Stücke daraus hier dennoch vertreten sind, liegt daran, dass er sie bereits geschrieben, aber noch nicht aufgenommen hatte.

Kein Costello, kein Kanye

Bei der Fülle an Material lassen sich statistische Daten erheben. Etwa die Zahl der Beatles-Stücke (64) oder die Platte mit den meisten Auszügen ("White Album", 11). Etwas schwieriger wird es, herauszufinden, wer oder was nicht dabei ist. Erstaunlicherweise Elvis Costello: Von den Stücken, die sie Ende der 1980er Jahre gemeinsam schrieben, ist kein einziges vertreten, wobei zwei davon Hits waren, "Veronica" für Costello und "My Brave Face" für McCartney. Auch "Only One", das er 2014 mit Kanye West schrieb, fehlt.

Unabhängig davon eignet sich "Lyrics" hervorragend, um lange Winterabende mit einer alle Stücke umfassenden Playlist zu überstehen. Wer sich die Mühe nicht machen will, selbst eine zusammenzustellen, findet auf Spotify eine vom Verlag, die allerdings "nur" 100 Stücke umfasst.

Doch auch damit lässt sich nachvollziehen, wie McCartney das Songwriting angeht. Das früheste hier beschriebene Stück ist "I Lost My Little Girl" von 1956. "Schon damals zeichnete sich eine musikalische Richtung ab; die Akkordfolge ist absteigend, die Melodie oder der Gesang aufsteigend. Offenbar spielte ich bereits mit ganz einfachen musikalischen Tricks, die mich faszinierten, auch wenn ich gar nicht genau wusste, wie sie funktionierten", erklärt McCartney im Vorwort.

Das "Little Girl" war seine Mutter, die an Krebs starb, als McCartney 14 war. Auch das bot schon einen Ausblick auf viele seiner Nummern, die oft einen melancholischen Unterton haben. "Take a sad song and make it better", dichtete er dazu passend in einem seiner bekanntesten.

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Paul McCartney

Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Paul McCartney,  | © laut.de (Fotograf: Alex Klug)

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