Mark Andrews rekonstruiert aus unzähligen Berichten von Zeitzeug*innen die Geschichte der Goth-Rock-Ikonen: informativ und irre unterhaltsam.

London (dani) - Wie kommt eigentlich bei jungen Menschen heute an, was wir einst abgefeiert haben? Machen wir einen absolut nicht repräsentativen Stichprobentest: Sisters Of Mercy? "Nie gehört", entgegnet der gut 25 Jahre jüngere Kollege. "Temple Of Love"? "Alice"? "This Corrosion"? Nein? Praktisch, dann kann er da ja unvorbelastet reinhören. "Eigentlich bin ich gegenüber so gothigem Zeug offen, aber das find' ich viel zu kitschig. Echt affig. Muss man wahrscheinlich dabeigewesen sein."

Hardcore-Sisters-Fans dürfen jetzt gerne steilgehen und geifernd irgendwas über den "Banausen" schimpfen, der "doch keine Ahnung" habe. Ändert nichts daran: Der Junge hat Recht. Viel exakter als mit "affig" lässt sich das Projekt Sisters Of Mercy kaum auf den Punkt bringen, und um zu verstehen, wie eine Formation mit derart räudigem Sound und im Grunde lächerlich wenig Output dermaßen Furore machen konnte, muss man wohl wirklich dabeigewesen sein.

An Beklopptheit grenzende Fleißarbeit

Mark Andrews vollführt mit "Black Planet" (Hannibal Verlag, 360 Seiten, Taschenbuch, 27 Euro, in flüssig lesbares Deutsch übersetzt von Kirsten Borchardt) nun ein mittleres Kunststück: Sein Buch holt gleichermaßen Sisters-Fans der ersten Stunde und musikhistorisch interessierte, vom Thema aber völlig unbeleckte Laien ab. Andrews schreibt, unter anderem für The Quietus, schon seit Jahren über die Sisters. Das merkt man: So tief, wie er in der Materie steckt, kann nur ein echter Nerd eingetaucht sein. Trotz aller erkennbaren Liebe zur Sache erliegt der Autor aber nirgends seinem Fanboytum, sondern bewahrt sich eine kritische Distanz.

An die hundert Interviews hat er geführt, mit ehemaligen Bandmitgliedern, Produzenten, Labelmitarbeitern, Entourage, mehr oder weniger befreundeten Musiker*innen und Wegbegleiter*innen, um den Aufstieg der Sisters Of Mercy nachzuerzählen: eine an Beklopptheit grenzende Fleißarbeit, die sich aber gelohnt hat. Der Untertitel verspricht tatsächlich eher zu wenig als zu viel. Dieses Buch zeichnet nicht nur den Aufstieg nach, sondern auch gleich Zenit und Zerfall des Projekts, das von vorne bis hinten eine Kopfgeburt von Andrew Eldritch war.

Der wiederum hat nicht nur die Sisters Of Mercy am Reißbrett ersonnen, sondern auch sein Künstler-Alter Ego, das rasant den Menschen hinter der Kunstfigur verdrängt, wahrscheinlich sogar aufgefressen hat. Um die Metamorphose von Andy Taylor zu Andrew Eldritch, der seine Sisterhood erst fest, irgendwann aber viel zu fest im Griff hatte, faszinierend zu finden, muss man wahrhaftig kein Mitglied der devoten Fanfamilie (gewesen) sein.

Die vielen, vielen Gespräche mit Zeitzeug*innen, die die Grundlage dieses Buches bilden, ermöglichen einen äußerst differenzierten Blick aufs Geschehen. Dass die Erzählenden unentwegt wechseln, erschwert zwar ein bisschen, auf dem Radar zu behalten, wer jeweils gerade berichtet. Sämtliche Namen von Veranstalter*innen, Roadies, Beleuchtern, Fahrern, Labelleuten und wer sonst noch alles zu Wort kommt, haben, wenn überhaupt, ohnehin allerhöchstens ein paar Superfans auf dem Schirm. Wenn es nicht gerade um die Bandmitglieder selbst (oder den von den Sisters offenbar recht unterwältigten Nick Cave) geht, springt einen beim Lesen wieder und wieder die Frage an: Moment, WER war diese*r XY noch gleich?

Die Flut der Sprecher*innen verwirrt zwar zuweilen beim Lesen, sorgt aber doch für das befriedigende Gefühl, rundum informiert aus der Lektüre hervorzugehen. Genau genommen protokolliert "Black Planet" nämlich nicht nur den Werdegang einer Band, sondern analysiert zunächst einmal den Boden, auf dem eine Combo wie die Sisters überhaupt erst Wurzeln schlagen konnte: die Punkszene von Leeds, "ein richtig herrlich stinkender Sumpf", wie sich Eldritch zurückerinnert. Damals war er zwar noch Andy Taylor, jedoch offensichtlich bereits wild entschlossen, sich zu einem der größten Rockstars seiner Zeit aufzuplustern.

Dass ihm das tatsächlich gelang, erscheint angesichts der wahrhaft jämmerlichen Anfänge seiner Band doppelt bewunderswert. "Black Planet" berichtet von dünn besuchten Auftritten der Sisters, von Technikpannen en masse und fehlendem Songmaterial, dessen ungeachtet aber früh vor sich hergetragenem Größenwahn und absolut fehlender Kompromissbereitschaft. Nick Cave, wie gesagt, gehörte nicht zu den Fans der ersten Stunde, wie sein The Birthday Party-Kollege Mick Harvey durchblicken lässt:

"Er [Eldritch] ging auf Nick Cave zu, weil The Birthday Party eine der besten Bands war, die er seit langem gesehen hatte. Jedenfalls quatschte er eine Ewigkeit auf Nick ein und gab ihm eine Kassette. Als wir wieder im Auto saßen, legte Nick das Band im Autoradio ein, ließ ein bisschen laufen, spulte dann vor, hörte noch ein bisschen weiter rein und spulte wieder vor, bis zum nächsten Song. Schließlich kurbelte er das Fenster runter, drückte auf Eject und warf die Kassette aus dem Fenster."

Derlei amüsante Anekdoten stecken Dutzende in "Black Planet". Zum Beispiel die Beschreibung der Geschehnisse, nachdem Eldritch sich weigerte, für eine Zugabe auf die Bühne (war ja bloß die Royal Albert Hall!) zurückzukehren: "Lemmy wollte nichts davon hören - er war backstage und fuchtelte mit seinem verdammten Messer rum. 'Lemmy brüllte Eldritch in der Garderobe an', erinnert sich Adams [Craig Adams, damals Bassist der Sisters]. 'Was hast du denn für'n Problem? Die Leute da draußen sind deine Fans, Alter. Gib ihnen mehr! Verdammte Scheiße, sei doch nicht so'n Weichei.' Adams konnte amüsiert dabei zusehen, wie sein Leadsänger von einem seiner großen Helden zur Schnecke gemacht wurde."

Natürlich kreist dieses Buch - wie die ganze Geschichte der Sisters Of Mercy - um Andy Taylor und sein Hirngespinst Andrew Eldritch, das irgendwann die Kontrolle übernommen hat. Ein hochintelligenter, interessanter Typ, darin stimmen sämtliche Berichte überein, aber auch ein im zwischenmenschlichen Bereich ... öh ... herausforderndes Gegenüber. Das impliziert nicht zuletzt diese Episode: Das Büro von Max Hole, in leitender Position bei Universal tätig, zierte noch lange nach der Hochphase der Sisters Of Mercy eine Fotografie ihres Frontmanns.

"Wenn die Leute dieses Bild von Andrew sehen (...), dann fragen sie mich, wieso dieser bestenfalls mittelmäßig erfolgreiche Künstler, der noch dazu auf einem anderen Label ist, an meiner Wand hängt, wo ich doch der Boss von Universal bin? Warum kein Bild von Mick Hucknell, meinem großen Erfolg? Ich sage dann immer: Es soll mich an den schwierigsten Dreckskerl erinnern, mit dem ich je zusammenarbeiten musste. Egal, was ich gerade erlebe - sobald ich das Foto ansehe, weiß ich wieder, dass nichts, gar nichts so schlimm sein kann wie das, was ich mit ihm erlebte."

Kollateralschäden en masse

Eldritchs übergroßes Ego, das sein über Jahre hinweg konstant hoher Amphetaminkonsum kaum erträglicher gemacht haben dürfte, kollidierte über kurz oder lang mit allem und jedem in seinem Umfeld. Auch seine Mit-Schwestern tauschte er hemmungslos aus, wenn sie ihn nicht aus eigenem Antrieb sitzenließen. Dass die Trennung in den seltensten Fällen im Guten ablief, lässt diese gallige Auflistung ahnen, mit der Mitte der 80er die Sisters-Nachfolgecombo The Mission auf den Plan trat:

"Craig Adams - ehemals The Sisters Of Mercy
Wayne Hussey - ehemals The Sisters Of Mercy
Pete Turner - ehemals Toningenieur bei The Sisters Of Mercy
Yaron Levy - ehemals Monitortechniker bei The Sisters Of Mercy
Phil Wiffin - ehemals Beleuchter bei The Sisters Of Mercy
Dave Kentish - ehemals Security und Fahrer bei The Sisters Of Mercy
Trina Wilson und Reg Halsall - ehemals Produktionskoordinatoren bei The Sisters Of Mercy
DIESE TOURNEE HAT ABSOLUT GAR NICHTS MIT EINER BAND ZU TUN, DIE SICH THE SISTERS OF MERCY NENNT.
"

Die Namensrechte für The Sisters Of Mercy liegen selbstverständlich bei Andrew Eldritch. Auch als "The Sisterhood" ließ er seine ehemaligen Mitstreiter nicht auftreten. Irgendwie erscheint das sogar gerechtfertigt, schließlich hat Eldritch die ganze Sache ersonnen, angestoßen und am Laufen gehalten, wenn auch stellenweise mit fragwürdigen Methoden.

Womit wir wieder bei der Zuschreibung "affig" wären: Um die Aufgesetztheit in Eldritchs Gehabe, seinem Gesang, seinem Auftreten, seinen Lyrics, in einfach ALLEM, das er anpackte, nicht zu sehen, müsste man schon eine tiefschwarz getönte Nostalgiebrille tragen. Setzt man die nur kurz ab, MUSS man eingestehen: Ja, verdammt. Das war affig. Allerdings hat da jemand die Affigkeit erfunden, zur Kunstform erhoben und auf ein Podest gestellt, und das Konzept ging voll auf. Von der zähen Beharrlichkeit, mit der Andrew Eldritch seine künstlerische Vision verfolgte, zeichnet Mark Andrews in "Black Planet" ein facettenreiches, informatives und vor allem irre unterhaltsames Bild. Lest das. Es ist den sich tagelang durch den Gehörgang windenden "This Corrosion"-Ohrwurm wert.

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Keine Ursache. Gern geschehen.

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Mark Andrews - "Black Planet - Der Aufstieg der Sisters Of Mercy"*

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Fotos

The Sisters Of Mercy

The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta) The Sisters Of Mercy,  | © laut.de (Fotograf: Désirée Pezzetta)

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laut.de-Interview The Sisters Of Mercy

Schon letztes Jahr beim M'era Luna Festival war ein Gespräch mit Sisters Of Mercy-Gitarrist Mister Whammy aka Adam Pearson vereinbart worden. Da auch die alten Weggefährten von The Mission auf dem Hildesheimer Festivalgelände weilten, schwebte uns eine ungezwungene Interview-Retrospektive auf die 80er Jahre vor.

laut.de-Porträt The Mission

1985 während der "Tune In Turn On Burn Out"-Tour mit den Sisters of Mercy kommt es zum Eklat zwischen Wayne Hussey (Ex-Dead Or Alive) und Andrew Eldritch.

laut.de-Porträt Wayne Hussey

Wer sich 2009 die magere Diskografie des in Bristol geborenen Engländers Wayne Hussey anschaut, könnte glauben, der Mann sei ein unbeschriebenes Blatt …

2 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor einem Jahr

    Interessanter Lesetipp, danke dafür!

    Das mit dem "affig" sollte man aber differenziert sehen: Ich verstehe, das jüngere das so sehen; damals war es aber absoluter Zeitgeist. Genau wie die Performance anderer Bands und Künstler aus dieser Zeit, die auf heute 20 jährige sicher ähnlich albern wirken würden.

    • Vor einem Jahr

      absolut. ich hab auch versucht, zu vermitteln, dass das damals halt schon was neues war. musik dieses härtegrads auf drumcomputern hat es vorher einfach nicht gegeben. aber bei aller liebe und allem respekt dafür, find' ich trotzdem, dass "affig" diese aufgesetzte, durchkalkulierte künstlichkeit echt gut trifft.

    • Vor einem Jahr

      Witzigerweise haben nach den Sisters viele ihrer Epigonen aus dem Gothicbereich diese aufgesetzte Künstlichkeit kopiert, was bis heute anhält.
      Die Sisters waren für dieses Genre stilprägend, was Sound, Ästhetik und Performance angeht.
      Somit ist das vielleicht eher eine Eigenheit des Genres, statt der Sisters speziell.

    • Vor einem Jahr

      Musste bei "aufgesetzte, durchkalkulierte künstlichkeit", aus deinem Kommentar Freddy, direkt an Rammstein denken... Aber auch schon beim lesen des Artikels.

      Sie sind zwar vom Zeitgeist her noch näher dran, so das es dort noch nicht so "affig" wirkt, aber wer weiß, wie die Kids das in 30 jähren sehen....

    • Vor einem Jahr

      rammstein sind doch auch höllenaffig! :D

    • Vor einem Jahr

      Wenn ich mir einen Höllenaffen vorstellen müsste, käme Till Lindemann in voller Konzertmontur umgeben von Pyrotechnik dem Ganzen auf jeden Fall sehr nahe.

    • Vor einem Jahr

      Der Unterschied ist aber, daß Rammstein sich von vornherein selbst nicht so ernst nehmen. Und nach allem, was man hört, ist Till auch kein Diktator. Mit JD kann man die Band also nicht vergleichen- das sind zwei verschiedene Welten.

  • Vor einem Jahr

    Oh, ich denke, das Buch wird mir gefallen. Danke für den Tipp.
    „First And Last And Always“ dürfte tatsächlich mein liebstes Album überhaupt sein. So richtig schlimm affig wurde der Eldritch-Zirkus zumindest meinem Empfinden nach auch erst danach.

    • Vor einem Jahr

      Danach war das auch keine richtige Band mehr, sondern das Solo-Projekt von Eldritch mit wechselnden Begleitmusikern.
      Allerding muss man ihm zugestehen, dass "Floodland" schon stark war, und in eine völlig andere Richtung ging, als das was Hussey und Adams dann mit The Mission gemacht haben.
      Vision Thing war dann nicht wirklich schlecht, wobei es von allen drei Alben am schlechtesten gealtert ist.