Über Kontrollverlust und Selbsthass im Windschatten der Nirvana-Explosion: Finster, ergreifend und brutal ehrlich.

Los Angeles (mis) - Dave Grohl beschrieb das Verhältnis zu seinem heroinsüchtigen Bandkollegen Kurt Cobain einmal so: "In unserem Umfeld wimmelte es von Drogen. Manche nahmen sie, manche nicht. Ich zählte zu letzteren, also hatte ich keinen Zugang zu der anderen Welt. Machst du mit, bist du drin. Wenn nicht, dann nicht." Mark Lanegan war drin in dieser Welt. Warum es an ein Wunder grenzt, dass der heute als Solokünstler geschätzte Elektro-Blues-Veteran mit dem Bohrloch-Organ noch unter uns weilt, erzählt er in seinen für einen wortkargen Amerikaner äußerst umfangreich ausgefallen Seattle-Memoiren "Sing Backwards And Weep" (Orion Publishing Group, 352 Seiten, 14,99 Euro). Parallel dazu veröffentlichte er ein Doppelalbum mit von der Arbeit am Buch beeinflussten Songs.

Die Story richtet sich an ein riesiges Publikum, sofern es davon erfährt. Denn versprüht auch der Name Mark Lanegan ähnlich der seiner alten Band Screaming Trees wenig Rock-Tabloid-Glanz, verhält es sich mit Pearl Jam, Soundgarden, Nirvana und Alice In Chains ganz anders, die größtenteils erst nach den Screaming Trees in Seattle loslegten und enge Kontakte zu Lanegan pflegten. "Sing Backwards And Weep" bedient damit einerseits die Sehnsucht der Öffentlichkeit nach Details aus der Dunkelkammer des Grunge. Andererseits kommen all jene auf ihre Kosten, die mit Begriffen wie SST, Sub Pop, Wipers oder Galaxie 500 etwas anfangen können.

Schon ab Seite 20 befindet man sich im Nervenzentrum des amerikanischen Westküsten-Undergrounds der späten 80er Jahre mit Lanegan als in jeder Hinsicht skrupellosem Erzähler. Seine traurige Kindheit unter der Knute einer misshandelnden Mutter, die direkt in eine kleinkriminelle Jugend übergeht, hat er da schon ausnahmslos derbe hingerotzt. Der nicht vorhandene familiäre Halt ist die Urzelle eines lebenslangen Traumas, auf das er auch seine spätere Drogensucht zurück führt.

Mit einem Hunger nach Abenteuer, Sex, Dekadenz und Punkrock ist er in der Kleinstadt Ellensburg im Bundesstaat Washington am falschen Ort, das merkt er schnell, und als er die Gebrüder Conner kennen lernt, mit denen er die Screaming Trees gründet, erkennt er unverhofft ein Vehikel für die Flucht. Eine Freude, die nur von kurzer Dauer ist. Seine Beziehung zur Band entwickelt sich zu einer Hassliebe. Grund ist der 140 Kilo schwere Gitarrist Gary Lee, den er, vorsichtig ausgedrückt, als sozial plump und menschlich unerträglich charakterisiert und der wegen seiner Körperfülle zur Zielscheibe zahlreicher Scherze wird.

Wer wissen möchte, warum es in diesem Leben keine Screaming Trees-Reunion mehr geben wird, erhält umfassende Antworten. Die kürzlich von Conner via Facebook geäußerte Empörung bezüglich Lanegans Buch ist angesichts Beschreibungen wie "lächerliche Angus Young-Karikatur" oder folgender Sätze leicht nachvollziehbar: "Lee comported himself like a fucking prima donna, a Hillbilly diva who considered himself a genius. He treated strangers, venue employees, coworkers, fans, crew, record company people, family, and everyone else he encountered like they were shit on his shoes, barely qualified to do his bidding."

Gründe für einen Ausstieg gab es für Lanegan in täglicher Abfolge, und man fragt sich, wie diese Bandkarriere knapp 14 Jahre halten konnte. Der Verdacht, Lanegan wolle hier zu seinem Vorteil schmutzige Wäsche waschen, den auch Liam Gallaghers Tweet jüngst nahelegte, verpufft jedoch angesichts der brutalen Ehrlichkeit, mit der der Musiker seine eigenen Verfehlungen als ewiger Außenseiter, Schläger, Blackout-Trinker und Misanthrop offenbart.

Es mutet fast schon skurril an, mit welcher Scham er die Zeit bei den Trees nachzeichnet, deren Psychedelic-Noiserock ab 1986 in der Indie-Szene großen Anklang findet. Der Frust darüber, dass er bis zum kommerziellen Höhepunkt mit dem Album "Sweet Oblivion" und der Single "Nearly Lost You" 1992 kaum musikalischen Input beitrug, muss extrem groß sein. Eine von unzähligen brüllend komischen Anekdoten jener Zeit, die Gary Lee Conner nicht in bestem Licht erscheinen lässt, ereignet sich auf einer Autobahn-Raststätte, nachdem der Sänger seinen Kollegen im Tourbus erstmals seinen Ausstieg verkündet. Der fand letztlich vor allem deshalb nie statt, weil das mit Ellensburg lebenslang bestraft worden wäre.

"Sing Backwards And Weep" lebt von den unvorhersehbaren Wendungen seiner Karriere, deren Fokus nach und nach von den Trees auf seine eigene Person, seine Soloalben und den berühmten Freundeskreis übergeht. Erfrischend ist, dass Lanegan keinerlei Interesse daran hat, das Rockstar-Leben zu glorifizieren. Im Gegenteil: Musik, Alkohol und Drogen werden zunehmend Kompensationsmittel, um dem Selbsthass und den Depressionsschüben zu entfliehen. Dabei ist Lanegan um keine Pointe verlegen und nutzt seinen schwarzen Humor, um sein eigensüchtiges und oft haarsträubend unsoziales Verhalten zu rechtfertigen. Natürlich kommen auch die Hintergründe des katastrophalen Roskilde 92-Gigs ans Licht, bei dem Lanegan völlig zugedröhnt um sich schlug und Monitorboxen in den Fotograben bugsierte (ab 38:00).

Ein Ausbruch, an den sein näheres Umfeld längst gewöhnt war, der allerdings noch nie auf einer solch prominenten Plattform stattfand. Ein Fiasko, an dem Kurt Cobain nicht ganz unschuldig war, wovon aber ein kurzer Interview-Auftritt bei MTV News am Nachmittag noch nichts erahnen ließ:

Die Liebe zur Musik, das wahrscheinlich einzige Element, das ihn heute noch mit der Hauptperson dieses Buches verbindet, dringt aus jeder Pore, unabhängig von Lanegans labilen Bewusstseinszuständen. Ob es sein erstes Nirvana-Konzert in der Stadtbibliothek Ellensburg ist, sein Treffen mit dem Gun Club-Idol Jeffrey Lee Pierce oder seine Dankbarkeit für die ungeplante Begegnung mit dem späteren Heilsbringer Josh Homme, der 1996 ohne sein Wissen als Tour-Gitarrist der Trees verpflichtet wird.

Einen der Top-Spoiler des Buchs verriet Lanegan bereits in einem begleitenden Rolling Stone-Interview: Cobain versuchte ihn am Tag seines Todes noch zu erreichen und ausgerechnet dessen verhasste Frau Courtney Love rettete ihm selbst Ende der 90er Jahre das Leben. Allein diese Episoden bereichern das historische Musikwissen um zentrale Passagen. Ganz abgesehen von der Farce um den "Singles"-Soundtrack.

Gegen Ende des Buchs verliert er sich ein wenig in der ausführlichen Selbstdemontage, die sein Crackdealer-Dasein herbei führt. Das Ende der Trees ist ihm keine Erwähnung wert. Dennoch staunt man, wie tief man selbst als international bekannter Sänger gesellschaftlich sinken kann. Ironischerweise dürfte gerade die Abwesenheit nie versiegender Geldquellen einer der Hauptgründe sein, dass Lanegan heute noch am Leben ist. Erneut kommt einem nach der Lektüre ein Zitat Dave Grohls in den Sinn, dessen Band Lanegan nach seinem Roskilde-Ausraster im eigenen Backstage-Raum versteckt hielt: "Gib ihm ein Mikro, lass ihn singen, aber komm' ihm bloß nicht in die Quere."

Selbst lesen?

Gute Idee! Dann entweder ab zum Buchhändler eures Vertrauens - oder aber hier entlang:

Sing Backwards And Weep*

Wenn du über diesen Link etwas bei amazon.de bestellst, unterstützt du laut.de mit ein paar Cent. Dankeschön!

Weiterlesen

laut.de-Porträt Mark Lanegan

Er sei getrieben von der Suche nach dem perfekten Verhältnis zwischen Laut und Leise, versuchte Mark Lanegan einmal, sein disparates Werk auf einen griffigen …

2 Kommentare

  • Vor 3 Jahren

    "Grund ist der 140 Kilo schwere Gitarrist Gary Lee, den er..."

    ???

  • Vor 3 Jahren

    "Erfrischend ist, dass Lanegan keinerlei Interesse daran hat, das Rockstar-Leben zu glorifizieren ..."

    Was ist daran denn erfrischend. Interessanter als die negativen Folgen immer auf einen Party-Lebensstil zu schieben, wäre es einmal zu klären, ob Ruhm an sich nicht suboptimale Erfahrungen für nicht gefestigte Personen darstellt. Immerhin erscheint mir der Kontrast zwischen zujubelnden Fans vor der Bühne und Verehrer die einen als Genie feiern und der Stille dazwischen und kommerzielle Misserfolge auf der anderen Seite, als ziemlich aufreibende emotionale Achterbahnfahrt. Drogen und Partys sind dabei ja eher das Symptom als die Ursache der dann auftretenden Depression.

    Ob das jetzt wirklich so zutrifft ist ja erst einmal zweitrangig. Jedenfalls ist die Erzählung von wegen "Erst hatten wir alles, doch mit der Zeit verlangte die ständige Party ihren Tribut" doch ein breitgetretenes, lustfeindliches und extrem spießiges Klischee.