Hitzespektakel in der badischen Provinz: Doch der Australier bleibt cool und liefert gnadenlos ab.

Rastatt (mis) - "It's fucking hot here" sind nach der Begrüßung seine ersten Worte zum Publikum. Zwei Songs sind zu diesem Zeitpunkt verklungen, Nick Cave steht auf dem direkt vor der Publikumsabsperrung angebauten, über 20 Meter langen Laufsteg, unabdingbarer Bestandteil seines messianischen Unterhaltungsauftrags. Die Spätsommersonne knallt ihm ins Gesicht, auf dem sich nun ein bübisches Grinsen breitmacht: "But the jacket stays on."

Es ist nicht der letzte launige Kommentar, mit dem der Australier an diesem Abend sein Düster-Rock-Repertoire auflockert, dessen Anziehungskraft sich in den letzten Jahren auf Arena-Niveau hochgeschaukelt hat. Berlin, Köln und Rastatt lauteten nun die auserwählten deutschen Tourstädte; die Provinz bedankt sich mit knapp 6.000 Zuschauern im Ehrenhof des Residenzschlosses - ein Ambiente, gerade gut genug für einen unserer letzten großen Storyteller-Granden (die spektakuläre Kulisse habe ihn überzeugt, so die Veranstalter).

The jacket stays on!

Wer befürchtet hatte, Cave würde aufgrund der sengenden Hitze und grellem Gegenlicht einen Gang zurück schalten, bekam beim dritten Song "From Her To Eternity" die erste von zahlreichen donnergrollenden Seelenreinigungslektionen seiner neunköpfigen Band erteilt. Der Wucht des 38 Jahre alten Noise-Punk-Klassikers wirft sich der Australier mit jeder Faser seines Körpers entgegen, so als versuche er, die Zeit anzuhalten. Sein Werk mag zuletzt in zunehmend ätherische Gefilde vorgedrungen sein, die Intensität seiner Live-Auftritte scheint über die Jahre immer höhere Level zu erklimmen. Es dürfte keinen vergleichbaren Künstler in seinen fortgeschrittenen Sechzigern geben, der zu solchen Darbietungen, zumal weit über zwei Stunden, imstande ist. Natürlich weiß sich Cave auch selbst zu helfen. So greift er sich einen Fächer aus dem Publikum, wedelt eine Weile herum, gibt ihn dann weiter an einen Achtjährigen auf den Schultern seines Vaters, der diesen Job brav übernimmt.

Die Gothic-Szene aus Süd- und Nordbaden weiß die einmalige Gelegenheit zu schätzen, einige hundert von ihnen schaffen es in den vorderen, abgesperrten Wellenbrecher-Bereich, um mit dem Meister auf Tuchfühlung zu gehen. Längst erreicht Cave alle Altersklassen, auch wenn Ü40 dominiert, auf den T-Shirts prangen Johnny Cash, Madrugada, Pearl Jam oder gleich Cave selbst, samt den Terminen einer Tour in den frühen 90er Jahren. Damals war der Schweizer Drummer Thomas Wydler noch dabei, der nun seltsamerweise fehlt, Gründe sind nicht bekannt. Percussionist und Keyboarder Toby Dammit übernimmt nun aushilfsweise, aber die Instrumentenverteilung ist längst fluide, hinter Charismatiker Cave herrscht somit stets munteres Treiben. Microkorg-König Warren Ellis bleibt zwar zweiter optischer Fixpunkt der Show, er hat aber seine Catweazle-Performance spürbar heruntergedreht, sieht man mal davon ab, dass er an einer Stelle mit dem Rücken zum Publikum einbeinig auf einem Stuhl balanciert, während er seine Geige mit Blickkontakt zur neu hinzugekommenen Keyboarderin malträtiert.

Gloriose Performance

Grundsätzlich dürfte es kaum ein Konzert auf dem bereits von Nena und den Fantastischen Vier bespielten Areal gegeben haben, bei dem das Publikum erstmals beim zwölften Song des Abends mit erhobenen Händen mitklatscht. Und selbst "The Mercy Seat" eignet sich dafür eigentlich nicht, Cave-Konzerte wirken auf Zuschauer*innen wie eine eigenartige Mischung aus andächtiger Hypnose und gespannter Faszination aufgrund der perfekt aufeinander abgestimmten und doch stets mit neuen Sound-Nuancen aufwartenden Band. "O Children", bekannt vom Album "Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus" oder "Harry Potter", entlädt sich auch dank der Gospel-Kraft der drei Backgroundsänger*innen, bevor die Schleusen der "Jubilee Street" geöffnet werden, und man nur noch hilflos im Bann des Zeremonienmeisters zappelt.

Hinter ihm der stets zurückhaltende Gitarrist George Vjestica und natürlich Jim Sclavunos, Herr des Glockenschlags in "Red Right Hand", der auch seine Schellenkranz-Tätigkeit mit einer Ernsthaftigkeit verrichtet, als würde seine Performance im Anschluss per Videoanalyse von Cave bewertet werden. Nach den gloriosen Brechern "Tupelo" und "Red Right Hand" sowie einer zu lieblichen und von seltsamen Stakkato-Drums durchzogenen Version von "The Mercy Seat" ist es Zeit für eine Piano-Pause. "The next song is kinda mid-period Nick Cave", setzt er an, um sicherheitshalber nachzuschieben: "That was a joke." Gemeinsam mit einer der Backgroundsängerinnen intoniert er das legendäre, mit PJ Harvey aufgenommene Duett "Henry Lee". Wer hier fürchtete, er könne dafür das populäre "Into My Arms" links liegen lassen (wie etwa auch den populären "The Ship Song") wurde gegen Ende des Konzerts versöhnt.

Innige Umarmungen mit den Fans

Eine weitere Qualität der Bad Seeds: Persönliche Songwünsche verblassen angesichts des tranceartigen Charakters der einzelnen Stücke. Selbst das wabernde "Ghosteen Speaks", das man zunächst als finales Ende des Konzerts wähnt, hätte einen krönenden Abschluss geliefert. Vereinzelte "Stagger Lee"-Rufe verklingen zwar auch nicht am Ende von "Jack The Ripper", den Publikumsreaktionen nach zu urteilen, ist die Mehrheit mit dem Programm jedoch hochzufrieden - die Schlange am Merchandisingstand ähnelt dem Getränke-Andrang. Ein letzter Gang über den Steg, innige Umarmungen mit den Fans der ersten Reihe, dann entschwindet er - selbstverständlich nach wie vor im Jackett - und auf die Zuschauer wartet der Heimweg - mit zahlreichen seiner eindringlichen Botschaften im Schlepptau: "Can you feel my heart beat? Boom! Boom! Boom!"

Setlist Rastatt 3. August:

  1. Get Ready For Love
  2. There She Goes, My Beautiful World
  3. From Her to Eternity
  4. O Children
  5. Jubilee Street
  6. Bright Horses
  7. I Need You
  8. Waiting for You
  9. Carnage
  10. Tupelo
  11. Red Right Hand
  12. The Mercy Seat
  13. Henry Lee
  14. Higgs Boson Blues
  15. City of Refuge
  16. White Elephant
  17. Into My Arms
  18. Vortex
  19. Ghosteen Speaks
  20. Mermaids
  21. Jack The Ripper

Fotos

Nick Cave in Rastatt, 2022 Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof.

Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug) Trotz sengender Hitze: Der australische Rock-Barde begeistert den Schlosshof., Nick Cave in Rastatt, 2022 | © laut.de (Fotograf: Alex Klug)

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