Die Autobiografie "Als Musik Meine Sprache Wurde" - ein weinerlich hingeschludertes Machwerk.

Berlin (ulf) - Ob man sie mag oder nicht: Unheilig sind ein popkulturelles Phänomen der Gegenwart, und der Graf ein echter German Dream vom Loser zum Stadionsuperstar. Was liegt da näher, als die eigene Geschichte auf den noch immer nicht satten Markt der eigenen Anhängerschar zu werfen, zunächst als Autobiografie, nun auch als Hörbuch: "Als Musik Meine Sprache Wurde" bietet Licht und viel Schatten, ein paar genutzte Möglichkeiten gegenüber viel vertanen Chancen.

Wer hätte gedacht, dass der Graf als noch jugendlicher Adelssproß tatsächlich massive Sprachstörungen hatte, die schlussendlich in totaler Verkennung und der Abschiebung auf die Hauptschule mündeten? Vor allem die erste von fünf langen Kapiteln bzw. CDs erläutert hervorragend das ebenso zähe wie aussichtslose Ringen mit einem extrem ignoranten Umfeld von der Schule bis hin zur Kaserne.

Der Produzent: eiskalt

Musik und Kunst diente also auch dem Grafen als Ventil und als Motiv, und daraus ergibt sich zumindest in Ansätzen ein entlarvender Blick auf das Musikbiz. Demaskierend, wie "der Produzent" den noch jungen und unerfahrenen Landgrafen eiskalt ausnutzt und abzockt, bis dieser sich sich regelrecht aus knebelvertraglicher Leibeigenschaft freikaufen muss.

Entzaubernd, wie ignorant Labels und Mainstreammedia der jeweiligen Charts Nummer Eins den Zucker überbordender Aufmerksamkeit in den Allerwertesten blasen, um schon die jeweils Zweitplatzierten als Verlierer im Rattenrennen zu behandeln. Und erhellend, wie in den Zeiten des Piraterie-bedingten kommerziellen Niedergangs die Hitlisten gleichwohl eine hohe Relevanz für etwa Festivalrankings inne haben.

Die Distanziertheit der Sprache macht Mitfühlen unmöglich

Auch der sich beim Leser/Hörer manifestierende Eindruck, der Graf müsse sicherlich ein sozial engagierter, empathischer Zeitgenosse sein, dem jede Oberflächlichkeit im realen Leben wesensfremd ist, funktioniert konzeptionell analog Haudegen recht gut. Doch gemessen am Gesamtumfang sind diese Punkte schnell erzählt. Das aufgehäufte Material trägt dramaturgisch einfach nicht im Ansatz über mehr als fünf Stunden. Und ab diesem Erkennen wird das Lauschen zur Qual.

Wer Aufschluss über die Persönlichkeit des Grafen erwartet, bleibt im Regen stehen. Das von Co-Autor Michael Gösele Erzählte ist ein sprachästhetisches Ärgernis und inhaltlich überwiegend belanglos bis unangenehm. Alles ergießt sich lang und weilig in einer Art betulichem 50er Jahre Duktus.

So erschöpft sich die Schilderung des familiären und freundschaftlichen Umfelds in holzschnittartigen Heiligenbildchen ohne jede Kontur. Die antiquierte Distanziertheit der Sprache macht jedes Mitfühlen unmöglich. Die meisten Nebenfiguren erhalten weder Namen oder Alias-Codes. Bezeichnungen à la "die junge Frau" stammen aus der Mottenkiste teutonischer Autorenschaft.

Die totale Asexualität

Fast alle Rede bleibt indirekt wie ein heruntergeratterter Zeitungsbericht. Ganz schlimm: Die stetigen Superlative, die eine nicht vorhandene Dramatik einimpfen sollen. Alles ist dauernd "erstaunlich", "skuril", "merkwürdig" oder "unglaublich". Kleinste Abweichungen vom Altäglichen werden entweder zu Katastrophen oder Segnungen des Schicksals hochgejazzt.

Wer aber auch nur erwartet, etwas über den so sinnstiftenden Bandnamen Unheilig zu erfahren, wird enttäuscht. In wenigen Sätzen wird lapidar abgehandelt, dass der Graf wohl ein eigenes Gottesbild habe, mit der Kirche jedoch nichts am Hut. Warum, weshalb? Nichts! Eine eigene Meinung zu Politik und Gesellschaft? Nichts!

Sex and Drugs and Rock'n'Roll hätten wir ohnehin nicht erwartet. Doch die totale Asexualität und Abwesenheit jeder Sinnlichkeit in Bezug auf Frauen oder Männer erinnert in seiner Muppethaftigkeit eher an Graf Zahl, als an die schillernde Autobiografie eines Rockstars und erwachsenen Mannes in den besten Jahren.
Wenigstens etwas Humor oder selbstironische Distanz? Goth bewahre! Im ganzen Buch findet sich keine einzige echte Pointe.
Null!

Medialer Wettstreit mit Bushido

Dabei hätte es so viele komische Situationen gegeben, die geradezu danach schreien ("der Produzent"!). Seien es die musiktypischen Erlebnisse als Vorgruppe in der eitlen schwarzen Szene oder etwa beim Videodreh in bitterkalten Temperaturen. Statt Esprit gibt es hier die volle Pathoskanne eines heroischen Märtyrers, die selbst Bono als bescheidenen Imageminimalisten wirken lassen.

Der zum Ende ausufernd geschilderte Wettstreit um die mediale Pole Position mit Bushido ("Der Rapper") entlässt den Hörer ironischerweise mit der offenen Frage, wer hier mehr oder weniger Gothic transportiert: Der Hip Hopper mit seinen bei Dark Sanktuary zusammen geklauten Passagen oder der Mann, der seinen Homunculus-Schlagerrock mit Leichenteilen von Rammstein-Mucke aufpimpt? Man weiß es nicht.

Authentizität gleich null

Am Ende erfährt man sogar im laut.de-Gespräch mit dem Grafen mehr über seine musikalische Philosophie, Vorbilder und das spirituelle Selbstverständnis als in dieser potemkinschen Gaukelei einer Biographie. Auch die Wortwahl seiner Durchlaucht ist im direkten Kontakt vielschichtiger, sympathischer und tiefer als in diesem weinerlich hingeschluderten Machwerk.

Wer nun alle Hoffnung auf ein wenig Qualität fahren lässt, wird mit der letzten Hörbuch-CD "Dreams And Illusions" - seinen ersten, Jahrzehnte alten musikalischen Gehversuchen als juweniler Junker dann doch noch eines Besseren belehrt. Der schicke Elektrokram von charmanter Italodisko ("Success") über EBM bis zu eigenwilligem Darkpop ist - trotz aller Unfertigkeit - mit Abstand das Interessanteste und Unterhaltsamste, was ich je von Mr Unheilig gehört habe. Es kann also doch noch alles gut werden. Bis dahin gilt: Allen Respekt für seinen Lebensweg, aber Vorsicht vor dieser tumben Inszenierung!

Von Ulf Kubanke

Fotos

Unheilig

Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein) Unheilig,  | © laut.de (Fotograf: Michael Grein)

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