laut.de-Kritik

Kölschrock auf Americana.

Review von

Als "Wegzehrung" umschreibt Wolfgang Niedecken die vorliegende Songkollektion. Quasi als Futter für die Wartezeit bis zum 40-jährigen BAP-Jubiläum, das 2016 ansteht. Gleich 30 Livetracks aus drei Abenden in der Kölner Philharmonie bietet der Deutschrocker auf. Das birgt zwar die Gefahr der Übersättigung. Doch die Entscheidung für eine abwechslungsreiche und akustische Umsetzung bewahrt vor dem Völlegefühl.

Glockenklang, erwartungsvolles Raunen im Publikum, frenetischer Applaus - als Opener präsentieren Niedecken & Co. "Noh All Dänne Johre". Intonation und Arrangement bleiben dezent melancholisch, wie eine warme Decke hüllt der Sound den Zuhörer ein. "Für'ne Moment" gefällt mit dylanesken Mundharmonikapassagen.

"Das Märchen Vom Gezogenen Stecker" hebt sich wohltuend ab von so manch anderem Unplugged-Album. Denn im Gegensatz zu allzu spartanischen Umsetzungen setzt Niedecken auf bunte Vielfalt in den Arrangements, die die altbekannten Songs oft genug in neuem Licht erscheinen lassen. Das gelingt nicht zuletzt dank des hervorragenden Personals, das aus altgedienten BAP-Leuten sowie nicht mehr ganz so neuen 'Newbies' besteht.

Werner Kopal (Bass), Michael Nass (Tasteninstrumente), Jürgen Zöller (Schlagzeug), Anne de Wolff (Geige, Bratsche, Cello, Posaune, Harmonium), Ulrich Rode (Saiteninstrumente, Pedalsteel) und Rhani Krija agieren überaus spielfreudig. Schmunzeln macht der Abschluss des ersten Konzertteils, wenn Niedeckens BAP sich für "Alles Wat Ich Zo Jähn Wöhr / Twist And Shout" an eben jenem letztgenannten Beatles-Klassiker versuchen - einfach nur schräg und schön.

Eine altgediente Nummer wie "Verdamp Lang Her" verdeutlicht nicht nur im Titel die Zeit, die seit den ersten BAP-Höhepunkten verstrichen ist. Dennoch klingen die Songs nicht altbacken oder unangenehm aus der Zeit gefallen - im Gegenteil. Eine "Kristallnaach" bleibt einfach nach wie vor beunruhigend aktuell. Das Augenmerk auf frisch eingespielte Arrangements lässt häufig vergessen, dass wir es hier mit einem Stück gewichtiger Deutschrock-History zu tun haben.

Eine Menge Folk-, Singer/Songwriter-, und besonders Americana-Einschübe färben die Tracks mit einem internationalen, aber nie bemüht klingenden Anstrich. Niedecken selbst greint und nölt wie in besten Tagen - der Schlaganfall scheint bestens überwunden. Die Abmischung des Albums lässt dazu Raum für die Reaktionen des Publikums.

Ganz besonderer Höhepunkt: Niedecken stimmt sein gefühlvolles Liebeslied "Du Kanns Zaubre" an. Gänsehaut pur beim Zuhören, wenn sich eine geradezu magische Atmosphäre zwischen Musikern und Besuchern entwickelt. "Das Märchen Vom Gezogenen Stecker" gefällt als mal besinnliche, mal angerockte Reise durch mehrere Jahrzehnte deutscher Rock- und auch Pop-Geschichte. Da freut man sich schon jetzt auf die nächste Wegzehrung.

Trackliste

CD

  1. 1. Noh All Dänne Johre
  2. 2. Für 'ne Moment
  3. 3. Zosamme Alt
  4. 4. Rääts Un Links Vum Bahndamm
  5. 5. Paar Daach Fröher
  6. 6. Do Jeht Ming Frau
  7. 7. Magdalena (weil Maria hatt ich schon)
  8. 8. Rhanis Solo
  9. 9. Nöher Zo Mir
  10. 10. Shoeshine
  11. 11. Ich Wünsch Mir, Du Wöhrs He
  12. 12. Souvenirs
  13. 13. Frankie Un Er
  14. 14. All Die Aureblecke
  15. 15. Alles Wat Ich Zo Jähn Wöhr / Twist And Shout

CD

  1. 1. Morje Fröh Doheim
  2. 2. Lisa
  3. 3. Noh Gulu
  4. 4. Michas Intermezzo
  5. 5. Jupp
  6. 6. Neppes, Ihrefeld Un Kreuzberg
  7. 7. Kristallnaach
  8. 8. Lena
  9. 9. Verdamp Lang Her
  10. 10. Prädestiniert
  11. 11. Anna
  12. 12. Du Kanns Zaubre
  13. 13. Novembermorje
  14. 14. Songs Sinn Dräume
  15. 15. Sendeschluss

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1 Kommentar

  • Vor 9 Jahren

    Als alter BAP-Fan und enttäuschter Hörer des "Zosamme alt"-Albums bin ich sehr zögernd nur in den CD-Laden meines Vertrauens gerannt, um diese Doppel-Scheibe käuflich zu erwerben.

    Aber der Gang und das Geld hat sich gelohnt. Selten habe ich Wolfgang Niedecken so entspannt erlebt. Ich glaube er ist jetzt wieder da angekommen, wo er lange hinkommen wollte: in den dylanschen Klanggefilden. Dylan mag ich gar nicht, aber "Das Märchen vom gezogenen Stecker" zeigt durchaus sehr deutlich, wieviel musikalische Tiefe in den BAP-Songs steckt und macht richtig Spaß.

    Mein Fazit: mit so einer tollen Live-CD hatte ich nicht gerechnet, nachdem ich die "Zosamme alt"-Scheibe doch eher als Beschallung zum Schäferstündchen weiterempfohlen habe.