7. Dezember 2021

"Das Unbekannte kann einladend sein"

Interview geführt von

"Day/Night" wirkt wie auf eine wundersame Art aus der Zeit gefallen. Der Gestus der Parcels klingt ausladend und warm, als wären die fünf Australier in den 70ern in eine Zeitmaschine gestiegen und zufällig im Jahr 2021 in Berlin ausgestiegen.

Was schon auf dem selbstbetitelten Debütalbum angelegt war, kommt auf "Day/Night" zur vollständigen Entfaltung. Der Popappeal von Titeln wie "Tieduprightnow" oder "Iknowhowifeel" klingt immer noch durch, doch der Fokus liegt woanders. Die Wahlberliner stricken ein dichtes Narrativ über Einsamkeit, Aufwachsen und Isolation in Form eines zeitungenössischen Doppelalbums. Dass die Parcels die Zeit hatten, so ein ausuferndes Werk aufzunehmen, liegt hauptsächlich an der Corona-Pandemie. Sänger und Gitarrist Jules Crommelin gibt darüber und noch vieles mehr bereitwillig Auskunft über Zoom. Seine Worte wählt er mit Bedacht, erst langsam entfalten sie sich. Ganz ähnlich, wie seine Musik ...

Hi.

Hi.

Sprechen wir beide heute miteinander?

Genau.

Also dann von Schnauzer und Schnauzer.

(lacht) Genau, Buddy.

Wie geht es dir?

Mir geht es wirklich gut. Wie siehts bei dir aus?

Auch ganz gut. Ich bin nur, wie immer, ein bisschen nervös.

Willkommen im Club.

Zuerst wollte ich nachfragen, wo du gerade bist ...

Ich bin in meiner Wohnung in Berlin.

Ihr verbringt also die Promophase in Berlin?

Genau, wir leben ja hier.

Habt ihr in Berlin auch den Lockdown verbracht?

Genau. Wir haben ein paar Monate hier verbracht. Ich kann mich an die Zeit aber nicht so gut erinnern, das war vollkommen verschwommen. Aber wir sind auf jeden Fall irgendwann nach Australien zurückgegangen.

Habt ihr mit den Aufnahmen zu "Day/Night" während des Lockdowns in Berlin begonnen?

Wir haben mit den Aufnahmen in Paris begonnen. Da war auch schon Lockdown. Wir haben ganz kurz vor Covid mit dem Album begonnen.

Habt ihr dann mit den Aufnahmen noch während des Lockdowns weitergemacht?

Ja. Es hat insgesamt anderthalb Jahre von Anfang bis Ende gedauert. Es war ein sehr langer Prozess.

Hat sich das Album durch Social Distancing für dich verändert? Wurde es dadurch beeinflusst?

Ich kann gar nicht so genau sagen, wie das Album dadurch beeinflusst wurde. Am wichtigsten war, dass wir Zeit und Raum hatten, wirklich zu schreiben. "Day/Night" dreht sich vor allem um Wachstum und den Kreislauf des Wachstums. Ich hab mich während der Isolation natürlich nicht immer kreativ gefühlt. Auch wenn es wie die perfekte Zeit für Kreativität scheint, war ich in diesen Momenten nicht immer unbedingt kreativ.

Habt ihr aufgenommen, während ihr in unterschiedlichen Wohnungen wart?

Nein. Wir haben alle zusammen im La Frette-Studio gelebt, das ist ein bisschen außerhalb von Paris. Damals war eine Art von Semi-Lockdown, man konnte noch rausgehen. Wir haben uns an die Regeln gehalten.

Wie habt ihr euch gefühlt, so lange nicht live spielen zu können? Vor allem, da ihr davor einen großen Fokus auf Liveperformances hattet?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Wir haben jetzt ein paar Shows gespielt. Eine mitten im australischen Nirgendwo in einer Kneipe vor ca. 20 Leuten. Wir hatten zwei von diesen Gigs in Australien. Abseits davon haben wir jetzt 18 Monate nicht live gespielt und auch etwas das Gefühl dafür verloren. Wir kämpfen immer noch ein bisschen damit, das Gefühl wiederzubekommen. Live spielen ist einfach so ein großer Teil davon, was wir machen. All die Rückmeldung bekommen wir live, wenn die ZuschauerInnen auf uns reagieren und zum Teil der Musik werden. Die neue Tour beginnt jetzt nächste Woche und ich bin super nervös. Aber das wird bestimmt super.

"Das Wichtigste an Texten ist Wahrheit"

Vor der Pandemie hattet ihr ja die Chance, neue Songs vor Publikum auszuprobieren, ein Gefühl für die Songs live zu bekommen. Bei "Day/Night" hattet ihr die Chance ja nicht. Jetzt lernt ihr sie ja für die Tour und müsst sie auf eine neue Art lernen. Wie fühlt sich das an?

Wir hatten bisher wirklich keine Chance, das neue Material live auszuprobieren. Aber das haben wir bisher eh nicht großartig gemacht, auch wenn das wahrscheinlich eine gute Idee ist. Wir sind dafür nie gut genug vorbereitet. Vor Covid, als wir mit dem Album angefangen haben, dachten wir uns 'Ok, das wird ein Album, das wir live spielen können und dafür gemacht ist.' Das war ein Teil des Aufnahmeprozesses, dass wir es live eingespielt haben und kaum Overdubs verwendet haben. Das sind einfach nur wir als Band, die da spielen. Ich habe mich davor zurückgehalten noch Sachen draufzupacken. Deshalb sollten "Day/Night" live ganz gut funktionieren. Aber mal schauen.

Für mich fühlt sich eure Musik immer auf eine seltsame Weise eskapistisch an. So, als wäre sie nicht mit dem gegenwärtigen Moment verbunden ...

Das ist eine interessante Sache. Also zuerst, was bedeutet überhaupt 'eskapistisch'? Weil die Momente des Eskapismus können auch die Momente sein, in denen du so gegenwärtig bist, wie sonst nie. Du bist weit von all dem Lärm des Alltags entfernt. So ist das auch bei Konzerten für mich. Ich habe das Gefühl, dass ich da aus meinem Leben entkommen kann und deswegen mehr in der Gegenwart bin als sonst. Deshalb weiß ich nicht so ganz, ob wir eine eskapistische Band sind. Auf dem neuen Album versuchen wir in unseren Texten einige wirklich schmerzhafte Emotionen zu verhandeln. Ich habe bewusst direktere Texte als bisher geschrieben.

Die Texte auf "Day/Night" sind auch einigermaßen spärlich auf den meisten Songs. Wie wichtig sind Lyrics für euch? Schreibt ihr Texte zu bestehenden Songs oder Songs zu bestehenden Texten?

Das ist immer unterschiedlich. Sobald ich eine Routine entwickelt habe, versuche ich sie wieder zu ändern. Aber allgemein kommen schon einige Akkorde zuerst. Ich mag das irgendwie. Diese instrumentelle Soundlandschaft, der Groove, die Akkorde, das kommt irgendwie zur selben Zeit. Das ist quasi das Fundament für die Gefühle, die der Song transportiert. Die besten Songs fließen einfach aus mir heraus, ohne nachzudenken. Als kämen die Worte von woanders. Im Großen und Ganzen sind Texte für uns wirklich wichtig. Es ist auch eine Art von Ziel für Songwriter, Worte zu finden, die für mich wahr sind. Das ist das Allerwichtigste, das Wahre zu sagen. Ich glaube, dass man sich da sehr leicht verrennen kann. Dann denkt man, dass man die Wahrheit sagt, aber eigentlich repräsentiert man nur eine gewisse Version für jemand anderen. Das ist dann ein Prozess, während der Aufnahmen. Irgendwann, nach Monaten, versteht man, dass man nicht die Wahrheit gesagt hat. Musik zu schreiben ist auch eine Übung in Vulnerabilität. Vor allem, wenn neue Fans dazukommen, damit steigt der Druck. Da hilft nur, immer die Wahrheit zu singen.

Verspürt ihr generell Druck für das zweite Album? Bisher war eure Karriere ja von Erfolgen geprägt. Ihr habt direkt am Anfang mit Daft Punk zusammengearbeitet, euer Debütalbum wurde fantastisch aufgenommen. Ist da jetzt irgendein Druck?

Ich glaube, der meiste Druck kommt von uns selbst. Wir haben uns ein wirklich ambitioniertes Ziel gesetzt. Zu aller Anfang haben wir zwei Alben aufgenommen, die in Kombination wie ein Film, oder Filmsoundtrack, und ein Popalbum klingen sollten. Es geht mehr um die Reise der Songs als Ganzes als die individuellen Songs. Das war uns wirklich wichtig. Schon als wir die Songs geschrieben haben, haben wir über die Tracklist nachgedacht. Deshalb war sie im Endeffekt schon ein Jahr bevor wir ins Studio gegangen sind, fertig. Deshalb haben wir uns selbst den meisten Druck gemacht. Natürlich gab es Druck, ein richtiges Banger-Album aufzunehmen. Es gibt immer diesen Wunsch, ein Hit-Album aufzunehmen. Ich kann mich aber erinnern, dass ich mir sehr sicher war, dass es nicht die Zeit dafür ist. Wir waren so fokussiert auf "Day/Night" und hörten all diese Filmmusik und wollten eine epische Reise abbilden, mit der wir Leute wirklich herausfordern. Das Album baut sich langsam auf, vor allem die "Night"-Seite ist manchmal schwer zu ertragen. Das ist alles bewusst geschehen. Das war unser großes Ziel.

Nur damit ich das verstehe: Habt ihr "Day" und "Night" separat aufgenommen? Oder gleichzeitig und dann Songs zu den Hälften zugeteilt?

Es hing alles zusammen. Wir hatten das Konzept von Beginn an. Sobald wir anfingen, Songs zu schreiben, haben wir sie unterbewusst in diese verschiedenen Kategorien einsortiert. Je länger wir Songs geschrieben haben, haben wir sie immer mehr sortiert, um das Narrativ auszubauen und die Geschichte zu erzählen. Wir haben versucht einen Film zu machen, ohne den Film. Also ein Narrativ aufzubauen. Ich hoffe das beantwortet deine Frage.

Vollkommen! Um nochmal kurz auf eure Texte zurückzukommen: Gibt es für dich einen Song oder eine Zeile, die das Album in seiner Essenz wirklich zusammenfasst?

Ich weiß nicht, ob es einen Song oder einer Zeile gibt, die wirklich alles umfasst. (Überlegt) Am offensichtlichsten ist für mich "Daywalk" und "Nightwalk" auf den beiden Albumhälften. "Daywalk" repräsentiert diese äußere Erfahrung. Also die Person, die du nach außen hin darstellst. Die Perspektive von außen. "Nightwalk" dreht sich dagegen um dein Innenleben. Darin spiegelt sich das grobe Gefühl der beiden Seiten: Wir müssen in uns selbst hereingehen, um für andere Leute dazusein, für unsere FreundInnen und Geliebten. Dafür müssen wir uns diesem Bösen in uns stellen. Nur so können wir es überwinden. Es gibt dafür tatsächlich ein Wort, das ich erst spät gelernt habe. Es ist aus dem Altgriechischen und lautet 'Enantiodromie'. Es ist ein wunderschönes Wort für das 'law of opposites' in der Psychologie. Die Idee, dass man sich den hässlichen Seiten seiner Persönlichkeit stellen muss. Als Beispiel, wenn du eine tiefsitzende Wut in dir hast und dich ihr stellst, dann verwandelt sich diese Wut in ihr Gegenteil. Es ist wie ein Kreislauf. Man stellt sich den Dingen und dadurch werden sie in ihr Gegenteil gekehrt. "Daywalk" und "Nighwalk" repräsentieren für mich die Umgebung, in der all das passiert. Allgemein haben Songs ja ein Konzept und alles um sie herum, ist ihre Umgebung. Generell stellen wir uns die Nacht ja als dunkel und mysteriös vor. Ein Raum voller Furcht und Unsicherheit. Ich hatte aber eine unbeschreibliche Erfahrung während einer Nachtwanderung in Australien. Es war im Summer, während Vollmond, und ich bin mit FreundInnen auf eine große Tour gegangen und wir haben nicht einmal Lampen gebraucht, weil der Mond in der Nacht so hell war. Währenddessen habe ich nur daran denken können, wie sanft und einladend die Nacht ist. Ich hatte sie einfach missverstanden und meine erste Interpretation war schlicht und ergreifend nicht wahr. Das Unbekannte kann unglaublich einladend sein, wenn wir aufmerksam sind. Darum dreht sich "Nightwalk", diese positive Seite des Unbekannten.

"Wenn man einmal einen Schnauzer hat, ist es sehr schwer keinen mehr zu haben"

Wie fühlst du dich damit, diese höchst persönlichen Songs zu veröffentlichen?

Schon unser Musikvideo zu "Theworstthing" konfrontiert viele Gefühle. Insgesamt geht es, glaube ich, in einem Prozess die Wahrheit zu suchen und sich dem wirklich zu stellen. Das ist unser Prozess als Band. Patrick (Harrington, Anm. d. Red.) und ich schreiben getrennt voneinander und kommen dann zusammen, um über unsere Gefühle zu reden. Dadurch finden wir eine Verbindung und können wirklich zusammen schreiben. Dieses Mal war das eine wirklich gigantische Aufgabe. Wir haben uns unseren innersten Dämonen gestellt und wirklich hochpersönliche Texte geschrieben. Jetzt ist es gleichzeitig furchterregend und aufregend. Alleine, dass wir die Möglichkeit haben, so etwas zu veröffentlichen und dadurch aus uns herauszulassen. Dazu kommt noch der Gedanke, dass das vielleicht anderen Leuten helfen kann, dass wir unsere Dämonen in unseren Songs bekämpfen. Dass sie hören, wie wir die Wahrheit über uns erkennen und dadurch vielleicht inspiriert werden. Wenn ich daran denke, verschwindet auch meine Furcht.

Das ist eine wirklich wunderbare Art an seine Arbeit heranzugehen. Jetzt wollte ich aber noch zu etwas leichter verdaulichen Fragen kommen. Die erste bezieht sich auf unsere Gemeinsamkeit: Der Schnauzer, auch wenn deiner schöner ist als meiner. Was ist dein Pflegegeheimnis?

Naja, deiner ist nicht so buschig wie meiner. Ich hätte total gerne einen etwas leichteren Schnauzer. Ich hab aber auch keine Idee, was ich mit ihm mache. Klar, ich trimme ihn, weil man das so machen soll. Aber das ist auch alles.

Ich kombiniere Trimmen immer noch mit Stoßgebeten, dass ich ihn nicht aus Versehen halb abrasiere!

(Lacht) Ja, genau. Ich bin immer super vorsichtig, wenn ich den Rest meines Gesichts rasiere. Vor allem am Rand zum Schnauzer, damit ich ihn nicht unterbrechen. Ein großes Problem mit dem Schnauzer ist ja auch: Wenn du mal einen hast, ist es sehr schwer, keinen mehr zu haben.

Genau. Meine ganze Identität ist um den Schnauzer herum aufgebaut. Ich habe noch eine weitere Frage über Aussehen. Ihr kollaboriert jetzt mit Gucci. Wie ist es dazu gekommen?

Damit ist ein richtiger Traum für uns wahr geworden. Wir haben immer ein bisschen auf Gucci geschielt. Ich hab echt keine Ahnung, wie es dann passiert ist. Wahrscheinlich haben sie uns irgendwann einfach entdeckt. Ich kann es kaum erwarten, die Klamotten auf der Bühne zu tragen. Wir hatten sie schon einmal an, auf einem Trip durch die Mitte von Australien. So richtig Sinn werden sie aber erst ergeben, wenn wir sie auf der Bühne tragen. Das kann ich kaum erwarten. Auf der Bühne eine andere Persona zu präsentieren, etwas extravaganter als sonst und auch ein bisschen freier.

Warum sind die Parcels und Gucci ein so gutes Match?

Ich denke, es ergibt einfach ästhetisch Sinn. Gucci ist die einzige Marke, bei der ich wirklich alles liebe, was sie machen. Das war schon immer so. Es gibt nichts von ihnen, das ich nicht tragen würde. Bei anderen Marken ist das nicht der Fall.

Vielen Dank für das Interview.

Gerne.

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LAUT.DE-PORTRÄT Parcels

Benannt nach dem Café der Eltern eines Bandmitglieds gründen sich Parcels mitte 2014 im letzten Jahr der Highschool in ihrer Heimat Byron Bay in Australien.

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