laut.de-Kritik

Elf unveröffentlichte Songs, Remixes und ein gigantisches Konzert.

Review von

So ekstatisch und funk-tastatisch, wie der Titelsong "1999" die orgelnden Synthie-Breakbeats wie ein Feuerwerk ausspuckt, so stellte sich Prince wohl Anfang der 80er den Jahreswechsel 1999/2000 vor. "1999" war eines der fünf "großartigen" Alben von Prince, neben dem "Purple Rain"-Soundtrack, "Around The World In A Day", "Sign 'O' The Times" und "Graffiti Bridge" – Platten aus der Zeit von 1982 bis '90. Nun liegt "1999" als Rundum-Paket auf fünf CDs und einer DVD vor; oder gar: auf zehn Vinyl-Scheiben.

Prince hat in den 90er Jahren dann zwar mehr veröffentlicht, als in jenen erfolgreichen 80ern. Als das Jahr "1999" dann endlich erreicht war, präsentierte er als gefallener Soul-Superstar, erhobenen Hauptes und als einer der ersten, Alben exklusiv im Internet-Download. Selbst dann noch ließ er viele Perlen in seinem Archiv liegen. Immer wieder, jahrelang, hatte er mit dem Label Warner gestritten. Weil er mehr herausbringen wollte. Jetzt hören wir endlich, was denn zum Beispiel: Elf Songs, die es bisher nicht gab und die ungefähr zeitgleich mit "1999" entstanden, also in den Jahren 1982/83: "Money Don't Grow On Trees", "Vagina", "Rearrange", "Bold Generation", "Colleen (Instrumental) (Rough)", "Turn It Up", "You're All I Want (Rough Vocals)", "Purple Music", "Yah, You Know", "Do Yourself A Favor", "Don't Let Him Fool Ya" und "Teacher, Teacher (16 Track)".

Warner befand bereits für "Piano & A Microphone" solche nie erschienenen Songs wie "Cold Coffee And Cocaine" und "Mary, Don't You Weep" nun für würdig genug, sie regulär herauszurücken. Geht man mal davon aus, dass Prince jedes Jahr so viele Songs beiseite legte, wie 1982/83, dann erwarten uns wohl noch hundert(e) Songs.

Ende 1999 kam Prince aus der "Versklavung", wie er seine Verträge nannte, "frei". Er hätte die Songs auf eigene Faust in die Welt werfen können. Gut, Bandbreiten waren damals so minimal, dass sein Gang ins Internet einer digitalen Revolution gleichkam – und obendrein pinkelte Prince damit noch einmal den Major-Plattenlabels mitten ins Gesicht. Heute setzt ein Rennen um die schnellsten Re-Releases ein. Denn Sony verwaltet die Rechte an den Aufnahmen, die ab 1995 erschienen. Die vorherigen darf Warner Brothers noch eine Zeitlang vermarkten, bis 2021 – egal ob sie veröffentlicht waren oder bisher im legendären Paisley Park vor sich hin verstaubten. Danach gehen die Lizenzen für die alten Tonbänder und für alle erschienenen Alben an Konkurrent Sony Music über. Einerseits will man nun im Hause Warner offenbar so viel wie möglich restaurieren. Andererseits ist dies sehr mühsam, denn viele Bänder sind völlig unbeschriftet. Manche rauschen, wie man auf Piano And A Microphone hört. Ob sich das Ganze kommerziell also lohnt?

Aus dem Staub befreit ist nun endlich ein kompletter Live-Mitschnitt. Für ihn hat es sich auf jeden Fall künstlerisch gelohnt. Er stellt die eigentliche Sensation dar und ist in der "1999 Super Deluxe Edition" auf CD 5 platziert. Sensationell, denn Prince spielte seine wahren Qualitäten am besten live aus. Dazu zählen der ungebremste schauspielerische Ausdruck, die jazzig improvisierenden Einlagen und endlos lange Versionen. Sensationell auch deshalb, weil das Konzert für die Ohren von Hifi-Audio-Nerds in einer Bitrate von 4233 kBit/s von den Bändern überspielt wurde. Das entspricht maximaler Klangtiefe und so gut wie verlustfreier Digitalisierung. Die hohe Klangqualität des guten Ausgangsmaterials, vom 30. 11. 1982, aus der Soul-Stadt Detroit, erweist den leidenschaftlichen Bläsertönen und den dynamischen, funky Bassläufen allergrößte Ehre.

Auch das übersteuerte Keyboard-Gniedeln in "Head", Prince's Sopran-Gesang in "Uptown" und "Let's Work" und das trashige Gitarrensolo in "Little Red Corvette" branden sehr direkt und sexy in den Lautsprechern auf. Streift der Blick über die Tracklist, fällt "Lisa's Keyboard Interlude" auf. Bei Prince ergab sich der weltweit seltene Fall einer weiblichen Keyboarderin in der Band, nachdem seine Karriere nur durch die Hilfe einer anderen Keyboarderin überhaupt ins Rollen kam. Auch Gitarristin Wendy Melvoin gehörte eine Zeitlang zu The Revolution, der damaligen Band von Prince. Es gibt wenige Herren in der Musikbranche, die so ausdauernd und konsequent Frauen gefördert haben, noch dazu ohne sich etwas darauf einzubilden. Lisa Coleman, eine ganz hervorragende Tastenspielerin, zog dann mit Kollegin Wendy in die Fernsehbranche und komponierte Soundtracks. Zumal wegen der Keyboards, sollte jeder Prince-Fan den Titelsong "1999" mal in dieser Live-Version (8:35 Minuten, plus fast zwei Minuten Applaus) gehört haben.

Mag trotzdem gut sein, dass selbst manche eingefleischten Prince-Fans mittlerweile gähnend abdrehen und in Anbetracht der Release-Massen unterschiedlichen Innovationsgrades nicht noch Mal sechs Stunden durchforsten wollen. Doch auch bei den Studio-Outtakes lohnt meist ein weiteres Hinhören. Vieles steht sogar an der Spitze von Princes Schaffen. "Bold Generation" stellt sogar einen der größten Sternstunden-Momente dar, ein Hammer-Song!

CDs 3 und 4 vermischen die elf komplett unveröffentlichten Songs mit raren, schnell vom Markt verschwundenen, und vor allem mit alternativen, frühen Fassungen. Die Trance-Version von "Feel U Up" und die reduzierte, intime Quasi-Unplugged-Aufnahme "How Come You Don't Call Me Anymore? (Version 2)" bleiben von den bekannten Songs am meisten haften. Bedeutend aber ist die extrem hohe Güteklasse des zuvor unveröffentlichten Materials:

Das luftig-lässige "Bold Generation" mit bissigem, laszivem, auch schwelgendem Vortrag lässt sich als eine der großen Entdeckungen des Archivbrockens verbuchen "Ich hab keine Zeit für Politik, nur für Musik, altmodische Musik und eigene Musik" faucht der politisch in der Tat stets farblos gebliebene Hausherr des purpurfarbenen Paisley Parks.

Alleine wegen der geschrieenen und flehenden Schauspieleinlage in Minute 2:27 bis 3:29 "Irresistible Bitch" lohnt sich das Öffnen dieser Box. Bis zur Erschöpfung und Heiserkeit keucht, kriecht und kräht der Liebesdurstige. Nein, er kann ihr nicht widerstehen, der unwiderstehlichen "bitch". Ihren Küssen. Keine feministische political correctness-Sprache hier. "Bitch", hier sehr positiv gemeint.

"Money Don't Grow On Trees" verwirrt da schon ein bisschen durch sein unheimliches Understatement - über weite Strecken ein Bassgitarren-Lied ohne große Melodie, ohne Tamtam. Von "you can't dance like Fred Astaire" gleitet Prince textlich zu "you can't do like Fred Astaire", einer Anspielung auf dessen Hit "We're In The Money". Wir baden aber nicht in Geld, es wächst ja nicht auf Bäumen, scheint Prince seiner Sexualgespielin zu erklären, "ah, babe ..." - oder sich selbst. Seine eigene Stimme überlagert ihn auf kuriose Art immer wieder, kaum hat er eine Line fertig gesungen, droppt sein eigenes Schreien mittenrein, und im Background-Gesang läuft er auch noch mit. Manchmal hört man Prince hier vierfach in einer Collage.

Die Gefilde des Jazzrock durchwandert tänzelnd das über zehnminütige "Purple Music" - programmatisch betitelt. "Purple music does things to my brain", genau Prince nutzte seine Musik wohl zu einer Art Selbsthypnose. Bei "Rearrange" dürfte Nile Rodgers ganz schön neidisch werden, wie gut Prince ihn hier wenn nicht kopiert dann besser gesagt "trifft", regelrecht besser als das Original. Colleen taucht als Tech-Funk-Instrumental aus den Archiven auf. "Vagina" ist ein früher Handclapping-Song, Funk-Folktronic, in welchem das Wort 'Vagina' übrigens nie fällt.

"Do Me A Favor": hier zitiert Prince textlich den Soul-Welthit "Walk On By" ("if you see me walking down the streets"), und der Song wirkt wie eine Umschreibung für Selbstbefriedigung. Also: Ignorieren, den anderen vorbeigehen lassen; alleine erfüllen sich die geheimsten Wünsche doch besser, "so sexy!", gniedelt Prince ins Mikro. Ungewohnt und ungewöhnlich selbst für Princes Verhältnisse scheint das hochgepitchte Tempo des neunminütigen Orgasmus-Opus. Streicherimitate geben konsequent den Beat vor, während das Schlagzeug sich mit einer untergeordneten Rolle bescheiden muss.

Geküsst wird in "You're All I Want (Rough Vocals)", wo Prince auf einmal auch um Punkrock nicht verlegen ist, genauso wenig wie um charismatisches akustisches Gitarrenspiel ("Teacher, Teacher (16 Track)"). Und ja, auch im bekannteren Material finden sich Ausflüge in rockige-Gefilde: Rock'n'Roll in der "Delirious"-B-Seite "Horny Toad", Punk-Funk in "Can't Stop This Feeling I Got".

Dass der Funk-Rock-Diamant "Possessed" bis dato keinen hohen Stellenwert im Prince-Erbe vereinnahmte, muss an der schieren Länge oder dem Release-Chaos liegen. Oder daran, dass diese Early Version mit ihrer Wahwah-Girarre eben noch nicht in Umlauf war. "Possessed (Early Version)" klingt relativ obsessed, und das macht es so gut.

"Moonbeam Levels" wie ein Junge ein Mädchen in einem Nuklearkrieg, dem Dritten Weltkrieg verliert, "pains and sorrows" über die auch dieser Künstler Anfang der 80er nachdachte. Das zugehörige Album "A Better Place 2 Die" wurde von den Rechtsanwälten des "The Prince Estate" für den Verkauf auf Second Hand-Märkten gesperrt. Ein paar Monate nach dem Tod des Künstlers wurde der Song dann als neue Entdeckung angepriesen und erschien erneut.

Die zweite CD muss man großteils nicht wegen der Aufnahmen haben, aber dennoch gehört sie zwingend dazu, wenn man wissen will, wie Prince damals im Radio klang. Fast jeder Song aus "1999" erschien als A- oder B-Seite einer Single, fast alle Songs waren aber als Singles deutlich zu lang. Hier nun findet man die ganzen Seven Inch-Versionen, also die kurzen Mixes. Gerade Songs wie "Irrestible Bitch" geht in der Kürze das Entscheidende verloren.

Viel spannender sind die Drumlinien in demjenigen Song, der gegenüber dem Album noch für die Discos verlängert wurde: der "Little Red Corvette (Special Dance Mix)" dehnt das atmosphärische Intro in die Länge, enthält einen langen zusätzlichen Schlagzeug-Part und ein fast zweiminütiges Outro mit trockenstem P-Funk, fast nur noch Bassgitarre, Drums und Spoken Word.

Die "Free (Promo Edit)" wirkt rastlos und verstreicht gefühlt erheblich schneller als die tatsächlichen 4:35 Minuten. Prince packt viel Emotion rein, beweist, welch ein famoser (Falsett-)Sänger er bei allem Schreien war, und fasst hier all seine Image-Rollen als Sexsymbol, Maniac und genialer Arrangeur und Komponist zusammen.

Die erste CD im Box-Set legt "1999" noch einmal vollständig vor. In verschiedenen Versionen auf Cassette und CD fehlten manche Tracks. Hier sind sie nun alle remastered und vereint.

"D.M.S.R." steht fürs Programm: Dance, Sex, Music, Romance, ein weiterer sehr langer Tune, klanglich auch in der "D.M.S.R. (Edit)" in Faltermeyer/Moroder-Style, fettester Synthie-Funk mit allerhand Sperenzchen in den Details. "I don't care in winning awards / all I wanna do is dance ", claimt Prince sein Revier. Und doch gebührt Prince der Preis für einen der sexuell expressivsten Künstler aller Zeiten.

Trackliste

CD1: Remastered Album

  1. 1. 1999
  2. 2. Little Red Corvette
  3. 3. Delerious
  4. 4. Let's Pretend We're Married
  5. 5. D.M.S.R.
  6. 6. Automatic
  7. 7. Something In The Water
  8. 8. Free
  9. 9. Lady Cab Driver
  10. 10. All The Critics Love U In New York
  11. 11. International Lover

CD2: Promos, B-Sides

  1. 1. 1999 (7'' Stereo)
  2. 2. 1999 (7'' Mono, Promo)
  3. 3. Free (Promo Edit)
  4. 4. How Come You Don't Call Me Anymore?
  5. 5. Little Red Corvette (7'')
  6. 6. All The Critics Love U In New York (7'')
  7. 7. Lady Cab Driver (7'')
  8. 8. Little Red Corvette (Dance Remix, Promo)
  9. 9. Little Red Corvette (Special Dance Mix)
  10. 10. Delerious (7'')
  11. 11. Horny Toad
  12. 12. Automatic (7'')
  13. 13. Automatic (Video Version)
  14. 14. Let's Pretend We're Married (7'')
  15. 15. Let's Pretend We're Married (7'' Mono)
  16. 16. Irresistible Bitch (B-Side)
  17. 17. Let's Pretend We're Married (Video Version)
  18. 18. D.M.S.R. (Edit)

CD3: Vault Nov '81 – Apr '82

  1. 1. Feel U Up
  2. 2. Irresistible Bitch
  3. 3. Money Don't Grow On Trees
  4. 4. Vagina
  5. 5. Rearrange
  6. 6. Bold Generation
  7. 7. Colleen (Instrumental) (Rough)
  8. 8. International Lover (Piano, Drums, Vocals – Take 1)
  9. 9. Turn It Up
  10. 10. You're All I Want (Rough Vocals)
  11. 11. Something In The Water (Original Version)
  12. 12. If It'll Make You Happy
  13. 13. How Come You Don't Call Me Anymore? (Version 2)

CD4: Vault May '82 – Jan '83

  1. 1. Possessed (Early Version)
  2. 2. Delirious (Full Version)
  3. 3. Purple Music
  4. 4. Yah, You Know
  5. 5. Moonbeam Levels
  6. 6. No Call U
  7. 7. Can't Stop This Feeling I Got
  8. 8. Do Yourself A Favor
  9. 9. Don't Let Him Fool Ya
  10. 10. Teacher, Teacher (16 Track)
  11. 11. Lady Cab Driver – I Wanna Be Your Lover – Little Red Corvette (Tour Demo)

CD5: Live In Detroit, 30 Nov '82

  1. 1. Controversy
  2. 2. Let's Work
  3. 3. Little Red Corvette
  4. 4. Do Me, Baby
  5. 5. Head
  6. 6. Uptown
  7. 7. Lisa's Keyboard Interlude
  8. 8. How Come You Don't Call Me Anymore?
  9. 9. Automatic
  10. 10. International Lover
  11. 11. 1999
  12. 12. D.M.S.R.

CD6: DVD Live In Houston, 29 Dez '82

  1. 1. Controversy
  2. 2. Let's Work
  3. 3. Do Me, Baby
  4. 4. D.M.S.R.
  5. 5. Interlude
  6. 6. Piano Improvisation
  7. 7. How Come You Don't Call Me Anymore?
  8. 8. Lady Cab Driver
  9. 9. Automatic
  10. 10. International Lover
  11. 11. 1999
  12. 12. Head

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Prince

Wenn jemand nach dem Unterschied zwischen Soul und Funk fragt, genügen als Demonstration zwei Songs: "Let's Stay Together" von Al Green - und "Sexy Motherfucker".

5 Kommentare mit 4 Antworten