laut.de-Biographie
Roger Whittaker
Treffender als die Kolleg*innen von der Times kann das Phänomen Roger Whittaker niemand beschreiben: "Manche Popsänger definieren den Zeitgeist", sinnieren sie dort über den britischen Sänger, Komponisten, Liedermacher und - oho! - Kunstpfeifer, "viele andere rennen ihm hinterher. Eine wesentlich kleinere Anzahl aber widersetzt sich ihm, und zu dieser Sorte zählte sich stolz und ohne jede Reue Roger Whittaker."
Tatsächlich erscheint Whittakers Erfolg in vieler Hinsicht unwahrscheinlich. Zum Beispiel erfreut er sich seit seinem Durchbruch in den 1970er Jahren einer so treuen wie begeisterten Fangemeinde in Deutschland, die er mit Songs auf Deutsch bei der Stange hält - obwohl er die Sprache gar nicht spricht. Die Texte von Liedern wie "Albany" oder "Abschied Ist Ein Scharfes Schwert", die im deutschsprachigen Raum zu riesigen Hits avancieren, notiert ihm sein Produzent und Texter Klaus 'Nick' Munro in Lautschrift.
Zunächst sieht es allerdings gar nicht danach aus, als ziehe Whittaker eine musikalische Karriere überhaupt in Betracht. Er singt zwar bereits als Kind im Kirchenchor in der Kathedrale in Nairobi, das Talent scheint in der Familie zu liegen: Schon sein Großvater sang in Clubs, sein Vater spielte Violine. Roger strebt allerdings erst einmal nach akademischen Weihen.
Nach Kenia verschlägt es die Familie aus klimatischen Gründen: Whittakers Vater betreibt ursprünglich einen Gemischtwarenladen im englischen Staffordshire, seine Mutter ist Lehrerin. Des wärmeren Wetters wegen wandert das Paar in die zu diesem Zeitpunkt noch britische Kolonie aus, nachdem der Vater nach einem Motorradunfall mit den Folgen seiner Verletzungen zu kämpfen hatte. Die Wärme, findet er, tue ihm gut. Die Whittakers bewirtschaften fortan eine Farm nahe Thika.
Hier kommt Sohn Roger Henry Brough am 22. März 1936 zur Welt. Seine Kindheit und Schulzeit verlebt er in Kenia. Nach seinem Abschluss wird er zum Militärdienst eingezogen und auch sofort in den Einsatz geschickt: Roger kämpft im Mau-Mau-Krieg, in dem sich Verfechter der kenianischen Unabhängigkeit gegen die Kolonialmacht und ihre weißen Siedler zu wehren versuchen. Eine Zeit, die Spuren hinterlässt: "Ich war dumm, selbstsüchtig und voller Zorn", erinnert sich Whittaker. "Die Army hat einen Mann aus mir gemacht."
Dieser Mann nimmt, sehr zur Freude seines Vaters, nach seiner Entlassung aus der Armee in Nairobi ein Medizinstudium auf. Lange hält er es da allerdings nicht aus: Schon eineinhalb Jahre später bricht er ab. Er sieht sich eher als Lehrer, er beginnt, aushilfsweise zu unterrichten, die naturwissenschaftlichen Fächer haben es ihm angetan. Im September 1959 zieht er, um seinem Berufswunsch näherzukommen, ins Herkunftsland seiner Eltern, nach Großbritannien. An einer Universität in Wales studiert er fortan Zoologie, Biochemie und Meeresbiologie. Sein Studium beendet er mit Auszeichnung und dem Titel Bachelor of Science.
Trotzdem hat Whittaker inzwischen schon wieder anderes im Sinn: "Ich schätze, ich bin eher ein Entertainer, der eine Weile lang ein Biochemiker war, als andersherum", blickt er auf seinen beruflichen Werdegang zurück. Gesungen und Gitarre gespielt hat er nämlich schon immer. Das erste Instrument schenkte ihm einst ein italienischer Kriegsgefangener. Sein Studium finanzierte sich Roger mit Auftritten in lokalen Bars. Erste Veröffentlichungen erscheinen - wer alt genug ist, um sich zu erinnern, weiß, worum es geht - auf Flexidisks, die Whittaker der Campuszeitung seiner Uni beilegt.
Irgendwann lässt es sich nicht mehr wegignorieren: Rogers Zukunft liegt auf der Bühne. Er findet eine Labelheimat bei Fontana Records, seine ersten Singles erscheinen noch unter seinem verstümmelten Namen Rog Whittaker. Die Titel "Charge Of The Light Brigade", "Men Of Steel" und "Butterfly" verkaufen sich allesamt recht gut. Als Sprungbrett entpuppt sich jedoch ein TV-Auftritt im nordirischen Fernsehen, danach geht es erst richtig bergauf.
1966 wechselt Roger Whittaker zu Columbia. Zwei Jahre zuvor hat er seine Partnerin Natalie geheiratet, die nicht nur die Mutter seiner fünf Kinder werden soll, sondern später auch seine Managerin und die Co-Autorin seiner Biografie "So Far, So Good".
Sein Debüt-Album "Dynamic!" erscheint 1967 und birgt den kunstvoll gepfiffenen Titel "Mexican Whistler", der sich zum Radiohit auswächst. Seine bisher größten Erfolge verzeichnet Roger Whittaker aber mit dem autobiografisch geprägten "Durham Town" und, noch etwas später, mit "The Last Farewell", das zu seinem Signature-Song wird und satte elf Millionen Mal über die Ladentheken unterschiedlichster Länder wandert. Die Nummer schlägt derart ein, dass 1976 sogar Elvis Presley anruft und höflich fragt, ob er das Lied covern dürfe (er darf).
Mit unzähligen Auftritten, live und im TV, erarbeitet sich Roger Whittaker eine internationale Fangemeinde, obwohl er, rein optisch, wirklich nicht zum Popstar geboren scheint: "Früh in meiner Karriere habe ich mich im Fernsehen gesehen und gedacht: Mit diesem Gesicht wird das nie was", gesteht er irgendwann dem Daily Express. "Deswegen hab' ich mir den Bart wieder wachsen lassen, den ich schon als Student trug." Damit und mit seinen biederen Jacketts und der Brille sieht er zwar immer noch aus wie ein Erdkundelehrer, aber wenigstens nicht mehr wie ein Milchbubi.
Vielleicht liegt es gerade an seinem freundlichen, nahbaren Netter-Mann-von-nebenan-Auftreten, dass Roger Whittaker die Herzen der Frauen scharenweise bricht. Besonders in Deutschland liegen ihm die Fans zu Füßen. Whittaker revanchiert sich mit auf Deutsch gesungenen Titeln, obwohl er die Sprache anfangs gar nicht versteht. Mit Erfolg: In manchen Jahren verkauft kein anderer Act hierzulande mehr Platten.
Auf dem Zenit seiner Popularität steht Whittaker in den 1970er und 80er Jahren. Er veröffentlicht Album um Album, absolviert Tournee nach Tournee und ist Dauergast im Fernsehen. 1974 tritt er auch beim Vorentscheid zum Grand Prix d'Eurovision de la Chanson" an - für Finnland. Sein Beitrag "Finnish Whistler" gewann zwar nicht, lief danach jedoch als Titelmelodie einer populären Kochshow im finnischen Fernsehen. Deutsche TV-Zuschauer*innen trafen nicht nur in Musiksendungen wie der "ZDF Hitparade" auf Roger Whittaker, sondern auch in den Werbepausen, in denen er mit seinem gefeierten Bariton Reklame für eine Kaffeemarke besang.
Nicht nur George Bush, der Ältere bekennt sich ans Fan und lädt Whittaker sogar zu sich nach Hause ein, um anlässlich seiner Goldenen Hochzeit für ihn zu singen. Roger Whittaker ist eine ziemliche Zeit lang überall. Spätestens in den 1990ern beginnt sein Stern allerdings zu sinken. Dennoch veröffentlicht und tourt er weiter und sammelt unterwegs verschiedenste Preise ein, darunter eine Platin-Stimmgabel und die Krone der Volksmusik, beides für sein Lebenswerk.
Erst 2012 verabschiedet er sich gänzlich von der Bühne, nicht jedoch, ohne die Welt wissen zu lassen: "Ich pfeife immer noch sehr gut." Viele, die Roger Whittaker gedankenlos in der Schublade "betulicher Schlager" ablegen, wissen das aber gar nicht. Dieser Klientel entgeht außerdem, was für eine eklektische Mischung aus, ja, betulichen Schlagern, aber auch Pop und Folk sein Repertoire birgt. Eine Erkenntnis, die selbst Whittakers Eltern verborgen geblieben ist: Sein Vater verzeiht seinem Sohn nie, dass der sein Medizinstudum aufgegeben hatte. Er und seine Frau weigern sich zeitlebens, auch nur ein Konzert ihres erfolgreichen Sohnes zu besuchen.
Zu einer Aussprache kommt es nicht mehr: 1989 überfällt eine bewaffnete Bande Whittakers Eltern. Die Männer ermorden den Vater, die Mutter, nach stundenlangen Folterungen gefesselt zurückgelassen, kann sich zwar befreien, bleibt aber von den Erlebnissen schwer gezeichnet. Sie kehrt nach der traumatischen Erfahrung nach England zurück und stirbt dort einige Jahre später in einem Pflegeheim.
Auf diesen tragischen Teil seiner Familiengeschichte angesprochen, betont Whittaker, Rachegedanken lägen ihm trotz allem fern: "Obwohl ich diese Geschehnisse für immer mit mir herumtragen werde, möchte ich mich nicht von Hass beherrschen lassen." Lieber Gutes tun: Whittaker setzt seine Popularität (und sein Geld) auch für wohltätige Zwecke ein. Insbesondere engagiert er sich für Natur- und Artenschutz und fördert unter anderem ein Programm zur Rettung einer vom Aussterben bedrohten Nashorn-Art.
Die Sache mit dem Ruhestand meint Roger Whittaker im Gegensatz zu manchem seiner Kollegen äußerst ernst: Auch anlässlich seines 85. Geburtstags lehnt er alle Interviewanfragen kategorisch ab. Zurückgezogen auf seinem Altersruhesitz in Südfrankreich ist er also schon eine Weile von der Bildfläche verschwunden, als im September 2023 die Nachricht die Runde macht, der inzwischen 87-Jährige habe einen Schlaganfall erlitten. Knapp zwei Wochen später dann "The Last Farewell": Roger Whittaker stirbt am 12. September 2023.
Abschied ist in der Tat ein scharfes Schwert, jedoch nicht der Song, der das Wesen ihres Vaters am treffendsten einfängt, so seine Tochter Jessica. Sie hätte "I Don't Believe In If Anymore" gewählt, ein entschiedener Antikriegssong, gesungen von jemandem, der weiß, wovon er da redet. "Für mich repräsentiert ihn das Lied besser als alle seine anderen Hits. Mein Vater war in der Armee, er hat den Krieg gesehen. Er war nicht die unbeschwerte Person, für die ihn alle hielten. Er nahm die Dinge sehr ernst."
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