laut.de-Kritik

Die Seebären erklären Meer und Klimawandel.

Review von

Sogar Bluegrass blüht in diesem "Doggerland", hört man "Diggy Diggy Lo". Björn Both und seine Seebären Santiano legen ein abwechslungsreiches Album vor. Musikalisch unterteilt es sich in nachdenklichere Phasen und in Party-Songs, die das Leben feiern, bevor entweder die Herren ins Jenseits abdampfen oder der ganze Planet ("Blauer Planet") in geschmolzenen Eisschollen absäuft und blauer als grün wird. Das kommt nicht von ungefähr. Obwohl die Storys teils eher vage Märchen-Qualität haben wie die Paradies-Suche in "Angekommen", und obwohl die Band teils auf bildstarke Einzel-Szenen setzt, ohne dass man wirklich eine Geschichte nachvollziehen kann, besteht doch ein fundierter Hintergrund.

"Doggerland", so nennt man die Kontinentalfläche zwischen der heutigen Insel Großbritannien und dem halbinselartigen und zerklüfteten Land Dänemark. Eine "belebte Landbrücke", wie die Band im Begleittext sagt. Und das ist noch untertrieben: Auch alles, was heute Inselchen wie Sylt, Amrum, Föhr, Helgoland, Hallig Hooge usw. sind, klebte als eine Landmasse zusammen. Auf Sylt finden schon lange regelmäßig karten- und fotounterstützte Vorträge statt, um Tourist*innen zu zeigen, wie Stürme immer mehr Masse vom Eiland abgetragen haben, die Flut sie stetig annagt und wie Sandaufspülungen den Schwund bremsen sollen, sich seit über 50 Jahren aber als Sisyphos-Aufgabe entpuppen. Santiano haben ein sauinteressantes Thema gewählt.

Die Musik dafür unterhält mit Wärme, Lebenshunger, kommt von Herzen, bündelt viel filigranes Geschehen in der rustikalen Instrumentierung und funktioniert in verschiedenen Kontexten: In der Küsten-Kneipe beim Krabbensalat. In Gummistiefeln auf Wacken. Beim Fernsehen. Einmal fast beim ESC. Außerdem zündet sie, wenn man findet, dass im deutschsprachigen Radiopop ansonsten zu viel gejammert wird, Mainstream-Rock zu viel auf Synthesizer setzt, Schlager ebenfalls. Gegen all das setzen die Schleswig-Holsteiner ein Rezept aus Hau-Drauf, Schunkeltauglichkeit und handgemachten Sounds.

Da dieser Mischmasch von vorigen Platten bereits sattsam bekannt ist, liegt der Unterschied fürs "Doggerland" im Detail. Das Album folgt in einer Reihe von Tracks seiner Überschrift. Dadurch bricht es mit den selten vor Kreativität strotzenden Genres Radiopop, Mainstream-Rock, Schlager und hier auch einer Art Nordic Heavy-Folk. Zusammen mit den Meeresbezügen und der selbstironischen Betrachtung der weißen Haare der Herren, füllt sich der an Banjo und Bouzouki hergestellte Sound mit einem gewissen Maß an Inhalt.

Okay, es gibt Ausrutscher in den Texten: "Die See verschlang den ganzen Stamm", oder das Mittelalter-typische Bekenntnis, den Teufel gesehen zu haben - solche markigen Texte haben ganz durchsichtig nur die Funktion, der rhythmisch einheizenden Musik mit ebenso flammenden Texten ein Pendant und eine Daseinsberechtigung zu verschaffen. Trotzdem wirken sie eher wie Stuss mit Soße, der im besten Falle kindliche Fantasien anregen könnte. Aber dafür ziehen die Wahl-Flensburger ihre bild- und fabelhaften Liedtexte dann wieder nicht konsequent genug durch.

Oft genug passen Ideen und Umsetzung aber ganz gut zusammen. Etwa in der Dorf-Liebesgeschichte "Wo Schläfst Du Heute Nacht?". Halb fröhlich, halb melodramatisch tänzeln die Nordlichter durch den lebhaften Song, nehmen die Marie und ihre Wirkung genauestens ins Visier: "Die gröbsten Kerle bekamen weiche Knie (...) kein Mann weckte ihre Glut."

Das Kernthema 'Klima' erachtete die Band vielleicht einfach für medial 'hip', um ins Horn der 'Letzten Generation' zu blasen. Der Werbetext informiert zugleich darüber, dass sich das Klima schon lange zuungunsten von Nordseeküsten wandelt. In seiner kirren Begeisterung stolpert der Promo-Schrieb voller verschwurbelter Poesie ein paar Mal. Er erinnert an eine "von der See verschluckten Welt, (...) deren Schätze bis heute in den Netzen der Fischer zu finden sind" und an "frühe Vorfahren der Schleswig-Holsteiner, mit denen sich die Band tief verbunden fühlt. Und natürlich sind Santiano auch schon selbst unzählige Male über das Gebiet gekreuzt, in dem die Überreste der untergegangenen Kultur aus prähistorischer Zeit verborgen liegen." - Welche Schätze und welche Überreste, das erfahren wir auf dem ganzen Album nirgends. Und ein Wort wie "prähistorisch" liegt etliche Etagen über den Wortschatz-Levels, mit denen Santiano tatsächlich operieren.

Am liebsten hauen sie nämlich kräftig auf die Pauke. "Wir sind zu alt / zu alt, um jung zu sterben, wir feiern dieses Leben, und niemand hält uns auf (...) und legen noch ein'n drauf", so euphorisch ziehen die Seebären schon anfangs in "Zu Alt" in ihr Party-trifft-Klimapolitik-Album hinein. Sie konnten gerade den "Kopf noch aus der Schlinge ziehen / uns vom Schicksal noch etwas Zeit geliehen." Prähistorisch ist hier gar nichts, dafür gibt's Trinksprüche satt. Vor allem, wenn man die hervorgehobenen Hooklines hört, und da vor allem die Aufforderung zum Feiern, heute meist gleichgesetzt mit Saufen.

Der Bogen zurück zum Geographie-Unterricht wirkt da holprig. Jeden Winkel im "Doggerland" hätten die Herren gekannt, verlautbaren sie, überall sattes Grün, also damals im Mittelalter, doch "ich sah seinen Untergang". Blubb! Der Tenor: Früher war alles besser. Der Erzähler sucht dann den versunkenen Nordseestrand, dann setzt die Fiedel ein und macht auf Trauer-Tanz. "Wir tanzten über Scherben, wir kämpften mit dem Sturm", beides schon spannend genug, aber dann standen sie auf einmal "vor den Toren der Hölle". Also, bewusst hin zu hören verleidet bei manchen Metaphernbrüchen doch den Spaß an der durchaus stringenten und spielfreudigen Musik. Manche Zeilen erweisen sich eben als genau so plakativ wie die Artworks der Gruppe.

In manchen Momenten ist genau das Einfache gut. "Du bist ewig, Blauer Planet, und wir Menschen säumen deinen Weg" - der schlichte Satz stellt mit dem Erstaunen eines kindlichen Blicks dar, wie wir nur eine minimale Zeitspanne in der Unendlichkeit des Planeten auf der Erde verbringen und die Natur ein eigenes Wunderwerk ist, etwa weil, wie sie singen, jede einzelne Welle des Meeres einzigartig sei, keine zwei Wellen identisch verliefen. Da merkt man dann schon, dass Both in einer Seefahrtsfamilie aufwuchs, Bandkollege Peter Sage privat gerne segelt. Das Wasser macht die Musiker demütig. "Wenn ein Mensch wie ich sein kleines Leben lebt, sag was bleibt von uns? Blauer Planet!" "Der Wind Hat Uns Ein Lied Erzählt" bläst auch nochmal zum Umweltbewusstsein.

Ein zweites wiederkehrendes Motiv der Platte, das sich eng mit dem skizzierten Weltuntergang verknüpft, ist das Alter. Und die Lebenserfahrung, der Respekt vor der Geschichte, das Klettern in die Vergangenheit. Santiano plädieren in "Seine Geschichte" für den Kontakt zu Senioren, die als Zeitzeugen bald fehlen werden.

Ein drittes Motiv im "Doggerland" ist das der Freiheit, das sich auch wieder mit dem Meer verbindet. "Es Klingt Nach Freiheit" hat eine wirklich gute Melodie, die Herren summen und trällern es schön im Chor, liefern hier den Ohrwurm der Platte, in den man gleich einstimmen kann: "Es klingt nach grenzenloser Freiheit, es klingt so wunderbar nach Freiheit." Sicher, das machen sie ein bisschen anspruchsarm. Wo die in der Presseinfo proklamierte Brücke zum Punkrock verläuft, erschließt sich nicht, aber ein bisschen anarchisch will der Song mit Slogans wie "morgen die Nordsee / danach die ganze Welt" wohl rüber kommen. Alles in allem passt das schon - für den Grammy wird oft viel flachere Unterhaltung nominiert.

Trackliste

  1. 1. Doggerland
  2. 2. Zu Alt
  3. 3. Es Klingt Nach Freiheit
  4. 4. Bully In The Alley
  5. 5. Blauer Planet
  6. 6. Wenn Ich Dich Je Vergess'
  7. 7. Angekommen
  8. 8. Am Ende Des Tages
  9. 9. Diggy Diggy Lo
  10. 10. Seine Geschichte
  11. 11. Wo Schläfst Du Heute Nacht?
  12. 12. Der Wind Hat Uns Ein Lied Erzählt
  13. 13. Irgendwann

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