laut.de-Kritik

Zwischen Poetry Slam und Social Media-Meltdown.

Review von

Die Website Tumblr hat in den frühen 2010ern einen immensen Einfluss auf die Musikszene genommen. Nicht nur, weil sie Weirdo-Kids einen völlig rechtsfreien Raum gab, sich um schräge Nischeninteressen zu gruppieren (so etwas wie der chaotische Gegenpol zu 4chan und reddit). Sondern auch, um Kunst und Ausdruck zu bündeln und zu intensivieren, auf dass er den Mainstream irgendwann subversiv unterlaufe. Selbst wenn es nicht leicht ist, den Zeitgeist im digitalen Zeitalter konkret zu benennen, veröffentlicht mit Sir Babygirl pünktlich zum relativen Relevanzende der Seite ein Artist sein Debüt, der so enigmatisch stellvertretend für Tumblr steht, dass er auch dessen fleischgewordenes Fazit sein könnte.

Sir Babygirl heißt eigentlich Kelsie Hogue und agiert tatsächlich eher auf Instagram. Von Comedy bis Schreiben hat sie sich bereits versucht, mit der Musik nun aber ein stetiges Medium gefunden, ihrer Ästhetik den angemessenen Ausdruck zu verleihen. Und diese Ästhetik ist die exakte Summe dessen, was die schrägen, queeren Kids im Internet lieben: Sie ist androgyn, goth, bunt, laut und absolut hysterisch.

"Crush On Me" ist insofern mitnichten für jedermann geeignet. Hier wird Spice Girls-esker Bubblegum mit Momenten von Grunge und Witch House ohne besonders viel Feingefühl vermengt. Die schrillen Synthesizer-Entscheidungen klingen nach Sounds, die EasyFun oder SOPHIE vom PC Music-Camp verwenden könnten. Und auch wenn sich so ein paar absolut unerklärliche Musikstücke wie "Flirting With Her (Reprise)" oder "Crush On Me" finden, deren Unhörbarkeit mit keinem Maß an Experimentierfreude gerechtfertigt werden kann, überwiegen doch die Treffer.

"Cheerleader" ist zum Beispiel eine wunderbar aufgekratzte Hymne auf Highschool-Melodrama, das es irgendwie schafft, Seifenoper-Topoi und die schlechtesten Seiten von Taylor Swift in einen potenten Flirt zu konvertieren. Geholfen wird Sir Babygirl allen voran von ihrer unorthodoxen Art und Weise, Hooks zu schreiben: Beispielsweise auf "Heels", bei dem Eingängigkeit durch unorthodoxe Umwege und bisweilen verdammt clevere Lyrics fantastisch unterlaufen werden.

"The mind's a funny fruit to sell at the market" heißt es da, bevor die Melodie des Chorus eine unerwartete Wendung nimmt. Dazu kommen die kantigen, aber irgendwie charmanten Backing-Vocals auf pulsierenden, unruhigen Drums. Der untrügliche DIY-Esprit rechtfertigt viele ausgefallene Klänge sowie die Ecken und Kanten im Gesang. Sir Babygirl schwebt in einer konstanten Balance zwischen Poetry Slam und Social Media-Meltdown.

Die beste Facette davon manifestiert sich auf "Haunted House". Ein Song, der so überkandidelt und zappelig klingt, dass er diesem Gefühl einer wirklich instabilen Party auf eine Art und Weise gerecht wird, wie es kaum ein anderer Song leisten könnte. Hogue schmettert die Hook in einem so verzweifelten, theatralischen Ton, dass man sich immer wieder kurz fragen mag, ob das Level an Camp hier nicht schon lange über allen Grenzen des guten Geschmacks liegt. Aber "Haunted House" brettert und klingt so befreiend und intensiv, dass sich alle objektiven Einwände in Luft auflösen.

"Crush On Me" ist ein Album, das man eigentlich keinem empfehlen würde. Die Schwächen im Handwerk werden kaum überschminkt, die Energie bekennt sich schamlos zur eigenen Peinlichkeit, und die Performances von Sir Babygirl knallen so unapologetisch ins Gesicht, das es mehr als einmal ans Unerträgliche grenzt. Aber gerade diese Kompromisslosigkeit erscheint in Kombination mit intriganten Formulierungen auf die absurdeste Art und Weise brillant. Wer sich vorstellen kann, dass kondensiertes Melodrama aus der Tumblr-Generation irgendwie genießbar sein könnte, der wird dieses Debüt womöglich lieben.

Trackliste

  1. 1. Heels
  2. 2. Flirting With Her
  3. 3. Cheerleader
  4. 4. Flirting With Her (Reprise)
  5. 5. Haunted House
  6. 6. Everyone Is A Bad Friend
  7. 7. Haunted House (Reprise)
  8. 8. Pink Lite
  9. 9. Crush On Me (Outro)

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