laut.de-Kritik

Pomp, Pathos, Plakativität und Patina.

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Am Wochenende vom 19. bis zum 21. Juli 2024 erfreut sich die Loreley wieder am 7/8-Takt: In malerischer Kulisse unweit des Felsens, der nach der einst von Heinrich Heine verewigten schönen Jungfrau mit güldenem Haar benannt wurde, wird zum 17. Night of the Prog Festival geladen. Ich selbst folgte dem Ruf der Loreley vor nunmehr elf Jahren und war begeistert von der überaus angenehmen Atmosphäre und dem für ein Genrefestival erfreulich abwechslungsreichen Line-up. Doch nicht jeder Besucher schätzte die Abwechslung: So herzlich die Atmosphäre auch war, so zahlreich waren auch die Unmutsbekundungen eines großen Teils des Publikums gegenüber Bands wie Opeth oder The Pineapple Thief. Das sei doch kein Prog, beschwerten sich Besucher, die drei Jahrzehnte mehr Lebenserfahrung als ich aufwiesen. Dieser Teil der Besucher sollte mit dem risikoarmen Line-up der diesjährigen Night of the Prog vollauf zufrieden sein. Nicht zuletzt, weil mit Steve Hackett eine der Legenden des Genres, die ganz genau weiß, was seine Die-Hard-Fans hören wollen, die Night of the Prog beehren wird. Und dieses Wissen um Fanwünsche hört man seinem neuen Album "The Circus And The Nightwhale" an.

Bereits "People Of The Smoke" fährt das ganz große Pathos auf: Frequenzrauschen, eine Blaskapelle, einen Hahnenschrei, einen Chor, eine an Pink Floyd gemahnende Frauenstimme, die "Are you sitting comfortably?" fragt. Eine Sirene, einen Babyschrei und eine Dampflok, ehe Streicher dramatisch draufloskratzen. Eine Glocke bimmelt und der Maestro gniedelt dann endlich. Himmel! Steht die Apokalypse bevor, diesmal aber weitaus weniger geschmackvoll vertont als in den goldenen Jünglingszeiten Hacketts, als zum surrealen Abendessen gerufen wurde? Nein, it’s been a long long time. Hackett begrüßt uns auf so vermeintlich unorthodoxe wie genrekompatible Weise auf seinem neuesten Opus, um die Geburt Travlas in Töne zu fassen. Bei Travla handelt es sich um den Protagonisten des Konzeptalbums "The Circus And The Nightwhale". Daraus, dass es sich bei der LP um ein autobiografisch gefärbtes Werk handelt und bei Travla um ein Alter Ego Hacketts, macht der Meister selbst kein Hehl. Als nach knapp eineinhalb Minuten das erste Gitarrensolo verstummt und Hackett selbst nebst Amanda Lehmann unspektakulär ins Mikro trällert, stellt sich allerdings eine Frage: Warum all die vorherige und nachfolgende Theatralik? Warum Pauken, Trompeten, Hahnenschreie, Sirenen? Die Lyrics bringen kein Licht ins Dunkel. Aber Hackett gibt seinen mitgealterten Hörern das, was sie hören wollen. Hier könnte der Schlüssel zur Beantwortung der aufgeworfenen Theatralik-Frage liegen.

Die beiden Folgesongs "These Passing Clouds" und "Taking You Down" meiden im Gegensatz zum Opener glücklicherweise die ganz großen Gesten, das Gitarren- im erstgenannten und das Saxophonsolo im zweitgenannten Song überzeugen und wirken doch verloren. Aus einem der weiterhin weltbesten Gitarristen wird im Alter von 74 Jahren abseits von Akustikgitarrenstücken, dazu gleich mehr, kein guter Songwriter mehr. Zudem verdeutlichen die Songs, dass die in der jüngeren Vergangenheit von vielen Hörern monierte Klangqualität der Hackett-LPs bei der Gitarristenlegende auf taube Ohren stieß. So klingen die von einem Ausnahmetrommler wie Craig Blundell eingespielten Drums auf "Taking You Down" erschreckend blechern. Auch sonst enttäuscht die Produktion selbst im Vergleich zu vorherigen LPs: Soundschicht wird über Soundschicht gelegt, nie kann man sich der Illusion hingeben, hier hätten Musiker gemeinsam im Studio Songs aufgenommen, der Musik fehlt es an Räumlichkeit. Auch von Stimmfiltern kann Hackett (auch abseits von "pre-recorded vocals" auf … nun ja … Livekonzerten) weiterhin nicht gänzlich die Finger lassen.

Nach dramatischem Intro mit Akustikgitarre und Streichern mimt Hackett in "Found And Lost" mal wieder den Blueser. Dass allein Hacketts Stimme, die er in jenem Song immerhin ohne Filter einsetzt, dieser Musikrichtung nicht gewachsen ist, weiß der kritische Hörer spätestens seit 1994 und dem unpassend betitelten "Blues With A Feeling". Der Maestro selbst lässt sich davon aber nicht beirren. Irgendwie sympathisch. Das Regen-Sample gibt seinen passenden Kommentar zum Dargebotenen ab und geht nahtlos in den entertainmenttechnischen Höhepunkt und songwriterischen Tiefpunkt des Albums über: "Enter The Ring".

Im März 1972 veröffentlichten Jethro Tull "Thick As A Brick", laut deren Frontmann Ian Anderson eine Persiflage auf den Progressive Rock. Verglichen mit "Enter The Ring" klingt das gesamte "Thick As A Brick"-Album jedoch bierernst. Nachdem sich der Regen verzogen hat, bimmeln die (Keyboard-)Glocken und Amanda Lehmann zieht mit offensichtlich durch den Filter gejagter Stimme die Vokale in Sätzen wie "I feel your eyes, islands call me" lang. Im weiteren Verlauf des Songs komplettieren eine Ian-Anderson-Gedächtnisflöte (nicht gespielt von unserem liebsten Mützenträger, sondern Steve Hacketts Bruder John), der Meister selbst mit fröhlichen Gniedelsoli, ein Akkordeon, Kinderkarussellklänge und Streicher den höchst unterhaltsamen Klangbrei. Im Gegensatz zu den Herren von Jethro Tull vor nunmehr 52 Jahren gelingt Hackett mit "Enter The Ring" die perfekte Parodie auf die eigene Musikrichtung. Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man dem Gitarrengott zu seinem großartigen Humor gratulieren.

"Ghost Moon And Living Love" gibt sich Mühe, das Kitschlevel nicht sinken zu lassen. Aus einem Kirchenchor sticht Amanda Lehmanns Stimme für das hackettgeschulte Ohr negativ hervor, ehe sie auch noch in den Vordergrund gemischt wird. Ja, Mrs. Lehmann singt das Intro des "Shadow Of The Hierophant" auf Konzerten passabel. Doch wer erklärt Hackett freundlich, aber bestimmt, dass Lehmanns Gesang nicht selten seinen Beitrag dazu leistet, erträglichen Sirup mit latenter Karieserregungsgefahr in ungenießbare Zuckerwatte mit Kariesgarantie zu transformieren? Während Hackett die Strophen unprätentiös einsingt und der Saccharosegehalt trotz überzuckerter Lyrics im Rahmen bleibt, lässt der Gitarrist am Ende des Songs im windschiefen Duett mit Lehmann alle gesanglichen und lyrischen Hemmungen fallen: "You’re my world, my dream come true. / Whatever life brings, it has to be you. / Hold on, my love, I’ll find a way / To break these chains, we’ll have our day!/ Hold on my love, we’ll find a way!" Im Promotext zum Album schwärmt Hackett davon, dass es "die Dinge [sage], die [er] schon seit langer Zeit sagen wollte". Das also brannte Hackett auf dem Herzen? Gegen pathetische Lovesongs lässt sich nichts einwenden, wenn sie authentisch dargeboten werden. Glaubwürdigkeit lässt "Ghost Moon And Living Love" aber vermissen.

Im weiteren Albumverlauf wird es orientalisch ("Circo Inferno"), atmosphärisch bis pathetisch ("Into The Nightwhale") und hardrockballadig ("Wherever You Are"). Zu Beginn des Tracks "Into The Nightwhale" zeigt Hackett, dass ein Bassbrummen, eine Keyboardtaste und sphärischer Gesang ausreichen, um – in diesem Fall eine unheimliche – Stimmung zu erzeugen. Leider zerstört er diese Atmosphäre mit Riffs und nach Konserve klingenden Drums rasch. Und mit folgenden Worten: "Visions of love beyond word / Turning the tide together in the world. / Love is real now that I’ve found you. / I’ll be there when darkness surrounds you." In der Lebensgeschichte des Protagonisten Travla scheint die Liebe eine gewichtige Rolle zu spielen. Wann immer es in den Texten nicht um die Liebe geht, werden diese glücklicherweise weniger pathetisch, aber eben auch so kryptisch, dass man das Konzeptalbum nur schwerlich als solches akzeptieren kann.

Und dann, nach 41 Minuten Pomp, greift Steve Hackett in "White Dove" zur Akustikgitarre. Die abschließenden drei Minuten des Albums versöhnen einen nicht mit dem vorherigen Bombastkitsch. Aber sie beweisen, dass Hackett weiterhin in der Lage ist, hervorragende Akustikgitarrenstücke in der Tradition der ganz großen Komponisten zu schreiben – oder zumindest noch vor wenigen Jahren dazu in der Lage war, da es sich um ein bereits 2018 erstmals veröffentlichtes Stück handelt.

Ein deutsches Genremagazin lobhudelt geschmacksverirrt, bei "The Circus And The Nightwhale" handele es sich um Hacketts bis dato bestes Werk. Der gemeine Progrock-Fan weiß die ganz großen musikalischen Gesten eben zu schätzen, insofern sie ihm solireich und krummtaktig vorgesetzt werden. Daher wird auch das Publikum auf der diesjährigen Night of the Prog die – so meine Prognose – wenigen Songs, die Hacketts Band aus dem Album spielen wird, goutieren, ehe der Gitarrengott sich musikalisch einem der ganz großen Werke des Progressive Rock widmen wird, an dem er maßgeblich mitwirkte.

Die Night of the Prog findet im kommenden Juli indes zum letzten Mal statt, das Nischenfestival rechnet sich nicht mehr. Bands wie Black Country, New Road oder Squid, die mit ebenso anspruchsvollen und grenzüberschreitenden wie vitalen, authentisch dargebotenen und modernen Songs ein jüngeres Publikum hätten ansprechen können, suchte man in den letzten Jahren auf der Festivalbühne vergeblich. Auf den Babyblauen Seiten findet man bis zum heutigen Tag keine Rezensionen der Alben jener Bands. Deren Musik sei nun mal kein Prog, behaupten retroorientierte Genrepolizisten mit festgefahrenen Hörgewohnheiten. Steve Hackett, jahrzehntelang keine musikalischen Scheuklappen tragend, kapituliert auf seinem neuesten Werk hörbar vor dem Lechzen jener Genrepolizisten nach Pomp, Pathos, Plakativität und Patina.

Trackliste

  1. 1. People Of The Smoke
  2. 2. These Passing Clouds
  3. 3. Taking You Down
  4. 4. Found And Lost
  5. 5. Enter The Ring
  6. 6. Get Me Out!
  7. 7. Ghost Moon And Living Love
  8. 8. Circo Inferno
  9. 9. Breakout
  10. 10. All At Sea
  11. 11. Into The Nightwhale
  12. 12. Wherever You Are
  13. 13. White Dove

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3 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 9 Monaten

    Dieser Kommentar wurde vor 9 Monaten durch den Autor entfernt.

  • Vor 9 Monaten

    "Deren Musik sei nun mal kein Prog, behaupten retroorientierte Genrepolizisten mit festgefahrenen Hörgewohnheiten. Steve Hackett, jahrzehntelang keine musikalischen Scheuklappen tragend, kapituliert auf seinem neuesten Werk hörbar vor dem Lechzen jener Genrepolizisten nach Pomp, Pathos, Plakativität und Patina."

    Die sind ja auch keine Prog. Wieso sollten sie dann dort spielen? BCNR habe ich letztes Jahr live gesehen und das war alles, aber kein Prog.

    • Vor 9 Monaten

      Sehe ich anders, für mich sind BCNR eine Prog-Band. Natürlich knüpft man als Hörer des Genres gewisse Erwartungen an den Klang einer solchen Band, die weniger durch die (sehr unterschiedlichen) Originale aus den 1970ern entstanden sind als durch die Schwemme an Retro-/"Neo"-Prog-Bands. Und diese Erwartungen mögen auf den bisherigen beiden Alben von BCNR nicht erfüllt sein. Aber was sind die wesentlichen Merkmale von Prog Rock? In erster Linie das Umgehen des gängigen Strophe-Refrain-Schemas. Und in zweiter Linie der Einsatz ungewöhnlicher Instrumente und ungewöhnlicher Taktarten sowie (kein Muss) Longtracks. All jene Merkmale sind bei BCNR erfüllt – bei anderen Bands, die ich selbst auf der Night of the Prog 2013 gesehen habe (die damaligen Pineapple Thief oder das Devin Townsend Project) hingegen nicht.

    • Vor 9 Monaten

      BCNR ist Artrock, Prog legt mehr Wert auf Solos, m.E.

    • Vor 9 Monaten

      Das Problem der Prog-Szene beschreibt aktuell dieser BBS-Autor ganz gut:

      http://www.babyblaue-seiten.de/album_21453…

      "Ein Album also, das sich perfekt in den eingangs beschriebenen Zeitgeist fügt. Nun könnte man argumentieren, dass Rockmusik doch immer dann am relevantesten ist, wenn sie ein unmittelbarer Ausdruck ihrer jeweiligen Gegenwart ist – und angesichts der geschilderten Altersstruktur bringt "The Likes Of Us" diese Gegenwart doch eigentlich perfekt auf den Punkt. Dabei geriete aber aus dem Blick, dass mit ebendieser Altersstruktur die aktuelle Progszene selbst kein Ausdruck ihrer Gegenwart mehr ist. Wer 2024 Pink Floyd auf dem T-Shirt trägt, hat diesen Anspruch verwirkt. Und dieser Zustand hat sich nicht etwa einfach so ergeben. Er ist vielmehr herbeigeführt worden, von rückwärtsgewandten Bands, kurzsichtigen Akteuren und passiven Fans, im 6/8-Takt. Und so werden auch im letzten Jahr der Night of the Prog die gleichen alten Herren wieder die gleichen alten Herren bejubeln. Nur dass es eben jedes Jahr ein paar weniger alte Herren gibt."

    • Vor 9 Monaten

      Das erste oder wahlweise zweite "B" bei den BBS kann man weglassen, BS wäre passender, ganz fürchterliche Seite!
      Prog ist zwar eines meiner meistgehörten Genres aber diese Progpuristen sind wirklich eine unangenehme Gruppe. Da kann ich Steven Wilson schon verstehen, dass er sich immer davon distanzieren wollte, selbst wenn er danach trotzdem noch "klassische" Progalben wie "Grace For Drowning" oder "Raven" gemacht hat.

      Und BCNR sind für mich eher auch kein Prog, denn inzwischen bedeutet Prog nicht mehr progressiv im eigentlichen Wortsinn oder wie vom Meisenmann aufgefasst, sondern damit ist eher eine bestimmte Klangästhetik gemeint. Eine Klangästhetik, die mir zusagt aber bis auf ein paar Ausnahmen, die frischen Wind reinbringen, z.b Haken, Plini, Unprocessed, Polyphia, Leprous und noch ein paar anderen ist der Sound schon häufig sehr retroorientiert.
      Aber progressiv im eigentlichen Sinne des Wortes sind BCNR definitiv, so wie auch einige experimentelle Rap-Acts wie beispielsweise Clipping. oder Injury Reserve, als Prog würde man diese Acts aber wohl nie bezeichnen.

  • Vor 8 Monaten

    Steve Hackett gebührt der Dank das Erbe von Genesis über Jahre mit entsprechender Sorgfalt verwaltet und gehegt zu haben- was die anderen von Genesis offenbar nicht einmal versucht haben.
    Die Soloalben sind nicht schlecht, aber wirklich gut sind für mich nur die ersten.