laut.de-Kritik

"They're askin' if I sold my soul." Eindeutig: Nein.

Review von

"When you're a Grime kid, you're a Grime kid for life", so sprach Stormzy einst. Nun, auch wenn angesichts seiner Prominenz, Omni- und Dauerpräsenz in den Medien komplett verrückt erscheint, dass dieses Album erst sein drittes sein soll: Er ist zweifellos kein Kind mehr. Grime sucht man auf "This Is What I Mean" entsprechend vergebens.

Die ranzige Floskel "erwachsen geworden" können wir zum Glück im Keller weitermodern lassen. Stormzys Hinwendung zu zugänglichen, mainstreamtauglichen Klängen verblüfft nicht allzu sehr. Wer seine Diskografie verfolgt hat, weiß: Schon immer steckte eine dicke Portion R'n'B in seinem Oeuvre. Die breiten Berührungsflächen zum Pop, manifestiert etwa in wiederholten Kooperationen mit Ed Sheeran, fielen ja nicht vom Himmel, genau wie Stormzys Popularität nicht grundlos weit über die Grime- und sogar über die Hip Hop-Szene hinaus reicht.

Es erstaunt eher, wie konsequent er auf "This Is What I Mean" auf gefühligen, angegospelten R'n'B setzt, und am meisten verwundert, dass das weder kitschig noch irgendwie kalkuliert oder aufgesetzt rüberkommt, obwohl die Tracks stellenweise das Etikett "Schmonz deluxe" mehr als verdient hätten. Dass die fast durchgehend auf Rhodes-Piano und Streicherarrangements bauenden, reichlich mit Chören dekorierten Instrumentals ausnahmslos edel - sprich: schweineteuer - produziert klingen, unterstreicht diese seltsam gespaltenen Eindruck noch.

"This Is What I Mean" steckt voller pathetisch-theatralischer Mainstreammucke, das ist wahr. Es hat mit Grime nichts mehr und mit Rap nur noch vergleichsweise wenig zu schaffen, das ist auch wahr. Also ... eine Abkehr von eingeschlagenen Wegen? Berechnung? Sellout gar? Warum zum Teufel wirkt es nicht so!?

Ich schrieb es schon: Zum einen deutete sich eine solche musikalische Entwicklung seit Jahren bereits an. Zum anderen, und das wiegt wahrscheinlich noch weit schwerer: Stormzy erweckt dieses ganze Album hindurch den Eindruck, als wolle er absolut nichts, wirklich gar nichts anderes machen als das hier. Dass er noch immer rappen kann, hat er mit seiner epischen Comeback-Single "Mel Made Me Do It" offenbar dermaßen hinreichend bewiesen, dass der Track hier noch nicht einmal enthalten sein muss.

Statt unentwegt mit seinen Rap-Skills zu prahlen (was er leicht könnte), stochert er ausgiebig in seinem Gefühlsleben herum, und das erweist sich als weit weniger glamourös, als manche*r bei einem wuchtig gekrönten Grime-Gangster wahrscheinlich vermutet. Weite Teile von "This Is What I Mean" drehen sich um das Scheitern einer und das Aufkeimen einer neuen Beziehung zwischen den Trümmern der vorherigen, um die Suche nach Halt, Beständigkeit und Ruhe (ja, auch bei einer höheren Macht).

Klingt schlimm? Theoretisch: ja, voll. Praktisch: kein bisschen, im Gegenteil: "This Is What I Mean" tönt vielmehr vom eröffnenden "Fire + Water" bis zum abschließenden "Give It To The Water" wunderschön, berührend und organisch gewachsen, wie aus einem Guss.

Letzteres erklärt sich aus dem Entstehungsprozess des Albums: Zusammen mit seinen musikalischen Mitstreiter*innen hat sich Stormzy in ein Songwriting-Camp auf die britische Insel Osea Island zurückgezogen: "An manchen Tagen haben wir Fußball gespielt oder sind spazieren gegangen und haben Fotos gemacht", erzählt der Gastgeber. Die Musik, die dabei entstand, bezeichnet er nonchalant als "Nebenprodukt".

"Dieses Album repräsentiert mein Leben und mein Wachstum", so Stormzy. Obwohl alles um ihn kreist, gesteht er seinen Mitmusiker*innen jeden erdenklichen Raum zu. Ms. Banks etwa brilliert mit ihrem Part im Titeltrack. Sampha, Mercury Prize-dekorierter Sänger und Produzent, bekommt mit "Sampha's Plea" einen Solo-Song, der sogar seinen Namen trägt.

Eine junge Sängerin und Songwriterin wie Debbie könnte die Präsenz des großen Stormzy leicht einschüchtern - dachte der große Stormzy. Dass dagegen umgekehrt sie ihn mit ihrem Selbstvertrauen, ihrer Leichtigkeit und ihrem schieren Talent aus den Latschen kippen ließ, erzählte er bereits im Vorfeld der Single "Firebabe". Er revanchiert sich bei der Kollegin mit Herzbruch-verdächtigen Duettmomenten in "Fire + Water", eben in "Firebabe" oder "Please". Den Closer "Give It To The Water" trägt Debbie größtenteils ganz alleine.

In "I Got My Smile Back" lässt Stormzy seine eigene mentale Entwicklung Revue passieren. Wie der Titel ahnen lässt, schippert er inzwischen in etwas ruhigerer See und blickt entsprechend versöhnlich auf Überstandenes und Erreichtes zurück.

Fassen wir zusammen: Beziehungsgedöns und Selbstanalyse, religiös konnotiert und obendrein auch noch mit einer Art Happy End, ohje. Preisfrage jetzt: Warum kommt einem all das nicht unerträglich selbstbezogen und schrecklich klischeebeladen vor? Zum einen, weil der Dreh- und Angelpunkt dieses Albums tatsächlich seine Authentizität ist. Wie Stormzy selbst sagt: "Ich wollte klingen, wie der Mann, der ich immer sein wollte ... Das Gefühl hatte oberste Priorität."

Zum anderen - und das zieht bei mir noch um Welten mehr als irgendwelche Idealvorstellungen irgendwelcher Künstler: Dieses unglaublich zugängliche, schlicht "schöne" Album unterwandert derart subversiv nicht nur jede Erwartung, sondern auch alle Regeln des Mainstreams, dass man lange gar nicht merkt, dass genau das passiert.

Der Opener mag glossy und poppig wirken, aber, verdammt, nach vier Minuten wummert da ein scheppernder Bass rein, dass es eine wahre Freude ist, und insgesamt ist das Ding unfassbare acht Minuten und 'n bisschen lang! Da kann noch so lange ein 80er-Jahre-Saxofon durch den Hintergrund dudeln - das ist doch eigentlich nix fürs Formatradio.

Die leisen Grime-Erinnerungen, die der brummelige Bass in "This Is What I Mean" weckt, mildern Chöre und Streicher zwar gleich wieder fast bis zur Unkenntlichkeit ab. Wenn dann aber erst Stormzy, dann (noch derber) Ms. Banks reinknallt und hernach zudem Black Sherif afrikanische Vibes mitbringt, dann stecken wir doch schon wieder bis zum Hals im Schmelztiegel.

Zwischendurch noch eine ebenso gehaltvolle wie kompromisslose Nummer wie "My Presidents Are Black" eingestreut: "Black boy fly, black girl fly, we all fly. If you try to rob them for their dreams of course I'm gonna put a target on your back, I'm Hawkeye. Beg you leave them youths alone, this is my war cry. Just careful when you fuck around and take the piss, that could be my little bro or baby sis." Es empfiehlt sich dringend, diesem Bogenschützen nicht in die Flugbahn seiner Pfeile zu laufen.

Immerhin eine der hier aufgeworfenen Fragen beantwortet sich von ganz alleine: "They're askin' if I sold my soul." Nein. Wirklich nicht.

Trackliste

  1. 1. Fire + Water
  2. 2. This Is What I Mean
  3. 3. FireBabe
  4. 4. Please
  5. 5. Need You
  6. 6. Hide & Seek
  7. 7. My Presidents Are Black
  8. 8. Sampha's Plea
  9. 9. Holy Spirit
  10. 10. Bad Blood
  11. 11. I Got My Smile Back
  12. 12. Give It To The Water

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1 Kommentar mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    Ein Mal angehört. Als großer Stormzy fanboy muss ich sagen...hör ich nicht nochmal. Viel zu cheesy. Dieser gospelske rnb, der bisher neben den Bangern ganz ok war, nicht gestört hat. Jetzt ist er eben nur noch da.

    Danach gab mir zufälligerweise der Spotify Algorithmus "still disappointed", da nennt sich Stormzy King of grime. Das ist er. Schade ist, dass er das wohl nicht mehr zeigen will. Er macht kein Rap mehr, er macht jetzt Musik.

    • Vor einem Jahr

      versteh ich irgendwo. mir gings halt umgekehrt. ich hab mich die ganze zeit gefragt, warum ich das NICHT scheiße finde, obwohl es eben genau das nicht mehr ist, wofür ich stormzy anfangs gefeiert habe. :)