laut.de-Kritik

Sehens- und hörenswert inszenierte Musik-Historie, randvoll mit unvergänglichen Ohrwürmern.

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Viele Pop- und Rock-Musikfreunde stehen der Kunstform Musical verächtlich gegenüber. Da verhält es sich ähnlich wie bei der Einordnung von Operette und Oper: Richtig ernst genommen wird zumeist nur letztere. Hollywood-Ikone Clint Eastwood wagt sich für seine "Jersey Boys" aufs höchst glatte Terrain der Musical-Verfilmung und rutscht dabei nicht aus, sondern liefert eine höchst sehenswerte Adaption ab.

Aufstieg und Fall der legendären Formation The Four Seasons mitsamt ihrem charismatischen Sänger Frankie Valli unterhält nicht nur musikalisch vorzüglich. Der Streifen thematisiert die klassische Story um zunächst leidlich erfolgreiche, hier italienischstämmige Nachwuchs-Musiker, die den Traum von der großen Karriere träumen. Nicht von ungefähr findet sich in der elterlichen Wohnung unübersehbar ein Foto des bewunderten Frank Sinatra an der Wand.

Die unter dem Namen Variety Trio spielenden Jungs nehmen Frankie Castelluccio als Sänger in die Band auf. Seine ungewöhnliche Falsettstimme bringt schon bald nicht nur Mädchenherzen zum Schmelzen. Nach Umbesetzungen und Uneinigkeiten über den eigentlichen Bandnamen stößt Songwriter Bob Gaudio hinzu. Damit nimmt die Karriere der vier ihren eigentlichen Anfang. Frankie Castellucio ändert zudem seinen Namen: Frankie Valli klingt viel griffiger.

Gibt es im ersten Viertel des Streifens noch allerlei Schmunzelmomente (etwa, wenn sich die jungen Immigrantensöhne recht erfolglos als Kleinganoven versuchen), halten im weiteren Verlauf mehr und mehr die ernsteren Töne Einzug. Immer stärker arbeitet Regisseur Eastwood die sehr unterschiedlichen Charaktere seiner Protagonisten heraus, und deren abseits ihrer Musikerkarriere entsprechend differierenden Lebensauffassungen.

Bis zum ersehnten Plattenvertrag ist es ein beschwerlicher Weg. Doch als "Sherry" herauskommt, nehmen die Four Seasons ganz Amerika im Sturm. Niemand phrasiert Songs wie Frankie Valli. Im Verbund mit den herausragenden Kompositionen seines kongenialen Partners Bob Gaudio gelingen ihnen zu Beginn der Sechziger gleich mehrere Nummer-eins-Hits.

Beim Betrachten des Films fällt auf, für wie viele spätere Cover-Hits anderer Künstler die Four Seasons als Wegbereiter dienten. Die Spätsixties-Hits "Rag Doll" und "Silence Is Golden" werden häufig in erster Linie mit den Tremeloes assoziert, stammen aber im Original ebenfalls aus der Feder Bob Gaudios. In den Siebzigern starteten die Bay City Rollers mit "Bye Bye Baby" ihre Teenrock-Karriere. Vallis erster großer Solohit "Can't Take My Eyes Off You" hat sich längst zum viel adaptierten Evergreen entwickelt (unter anderem Gloria Gaynor, The Supremes, Shirley Bassey).

Doch hinter der Show-Fassade bröckelt es: Der selbsternannte Bandleader Tommy DeVito stößt seine Mitstreiter mit seiner Exzentrik immer häufiger vor den Kopf und gefährdet mit angehäuften Schulden den Fortbestand der Four Seasons. Nick Massi steigt aus. Das hat eine komplette Neustruktierung aller Karrieren zur Folge. Verstärkt verdient Frankie Valli sein Geld mit Solo-Programmen.

Die Entscheidung, die Hauptrollen des Film mit den Protagonisten des erfolgreichen Broadway-Stücks zu besetzen, geht voll auf. John Lloyd Young gibt einen grundsympathischen Frankie Valli, sein Gesang kommt dem Original erstaunlich nahe. Erich Bergen alias Bob Gaudio überzeugt als eigenbrötlerischer Songwriter auf ganzer Linie.

Der bei einer Band-Story unvermeidlichen Vielzahl an Personen wegen findet die ganz tief auslotende Charakterzeichnung nicht statt. Dennoch entwirft Eastwood für jede seiner Figuren eigene, unverwechselbare Konturen, die nie klischeehaft rüberkommen.

Christopher Walken liefert für "Jersey Boys" eine prächtige Gaststar-Performance ab. Seine Rolle als Mafia-Boss Gyp DeCarlo legt er höchst gewinnend, sogar geradezu väterlich an. Hier schießt die Inszenierung sicher klar an damaligen Realitäten vorbei, funktioniert im Kontext der erzählten Story allerdings vorzüglich.

Für seine filmische Umsetzung hält Eastwood auch einige kleine, wirkungsvolle dramaturgische Kniffe parat: Mitunter kommentieren die Boys den jeweiligen Lebensabschnitt direkt in die Kamera, während der eigentliche Take weiterläuft. Das geschieht stets auf charmante, nie aufgesetzt wirkende Weise.

Die Gala zur Aufnahme in die Rock And Roll Hall Of Fame im Jahr 1990 und die damit verbundenen Wiedervereinigung der Urbesetzung läutet das große Finale ein. Bemerkenswert nicht nur an dieser Stelle, sondern den gesamten Film über, die tadellose maskenbildnerische Leistung für die stetig alternden Four Seasons.

Ganz zum Schluss greift Eastwood dann doch noch bewusst (und geschickt eben nur einmal) in die üppige Musical-Bühnen-Kiste und belohnt den Zuschauer nach all den überstandenen Dramen verdient mit einer positiv stimmenden, herzerwärmenden großen Show-Nummer.

"Jersey Boys": ein sehens- und hörenswerter Streifen über eine ungewöhnliche Bandkarriere, stimmig ausgestattet, umgesetzt und gespielt. Und bis zum Schluss randvoll mit unvergänglichen Ohrwürmern einer großen musikalischen Ära. Mit der DVD erscheint gleichzeitig eine begleitende CD mit dem Soundtrack, die Originalaufnahmen sowie die Film-Interpretationen von John Lloyd Young zusammenfasst.

Trackliste

  1. 1. Prelude
  2. 2. December, 1963 (Oh, What A Night)
  3. 3. My Mother's Eyes
  4. 4. I Can't Give You Anything But Love
  5. 5. A Sunday Kind Of Love
  6. 6. Moody's Mood For Love
  7. 7. Cry For Me
  8. 8. Sherry
  9. 9. Big Girls Don't Cry
  10. 10. Walk Like A Man
  11. 11. My Boyfriend's Back
  12. 12. My Eyes Adored You
  13. 13. Dawn (Go Away)
  14. 14. Big Man In Town
  15. 15. Beggin
  16. 16. Medley
  17. 17. C’mon Marianne
  18. 18. Can’t Take My Eyes Off You
  19. 19. Working My Way Back To You
  20. 20. Fallen Angel
  21. 21. Who Loves You
  22. 22. Closing Credits: Sherry / December, 1963 (Oh, What A Night)
  23. 23. Sherry (Orig.)
  24. 24. Dawn (Go Away) (Orig.)
  25. 25. Rag Doll (Orig.)

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