laut.de-Kritik

Tief schürfende Bodenproben aus dem Wurzelreich des Britpop.

Review von

Wer bei The Kinks an süße, kleine Gitarrensongs mit Message denkt, hat wahrscheinlich "Days", das Liebeslied "Tired Of Waiting For You", die Mode-Studie "Dandy" oder die Transvestiten-Story "Lola" im Ohr. Die bekannteste Nummer der Londoner Band erreichte in Deutschland und Österreich damals Platz 2 der Charts. Auch das romantisch verliebt-verklärte "Waterloo Sunset" über Julie und Terry am Zentralbahnhof Waterloo in der englischen Hauptstadt zählt zu den oft erinnerten Hymnen des Quartetts.

"Lola" fehlt, die anderen genannten sind auf "The Journey Part 1" vertreten. Es geht trotzdem gerade nicht um "Greatest Hits", wie neben "Lola" auch das Weglassen von "Sunny Afternoon" zeigt, sondern um eine subjektive Auswahl. Die Band feiert, dass sie sich vor genau sechs Jahrzehnten als The Ravens gründete. Sie zelebriert das mit dem, was ihr wichtig ist. Die (zerstrittenen) Brüder Davies und der damalige Drummer Mick Avory zücken hier ein selbstgewähltes, als akustisches Fotoalbum geordnetes Best Of der Platten von 1964 bis '75. Schnell reiften die Jungs aus dem Stadtteil Muswell Hill von einer Blues-Cover-Combo zur Speerspitze der erfinderischsten Artists an der Themse.

Entsprechend jagt hier ein Nugget das nächste, überstrahlt ein funkelnder Diamant den benachbarten in der Tracklist. Dabei lassen sich der Hi(t)story-Compilation etliche neue Aspekte abgewinnen. Ich dachte zum Beispiel, jeden Songs dieser großartigen Storyteller längst intus zu haben. Stimmt aber nicht: Einiges erschien nie auf Alben, fast nie auf Best-Ofs, schon gar nicht so kompakt vereint.

Die Kinks selbst sind sehr wichtig für die Entstehung dessen, was wir heute 'Indie-Rock' nennen: Die ursprünglichsten aller Paten! Ray Davies, der Hauptsongschreiber, sollte zu seinem 80. eigentlich eine Statue in London gestellt bekommen, finde ich - als Prototyp des 'Singer/Songwriters'. The Kinks waren die erste Band mit Garage-Punk-Sound in den Charts, mit "You Really Got Me" (August 1964) und "All Day And All Of The Night" (Oktober 1964). Sie übernahmen von The Whos "The Who Sell Out" die Kunstform des Konzeptalbums, trieben sie bis zum Exzess und wurden darin später von Genesis und Bowie formalgestalterisch kopiert.

Etwas später, als die Beatles ihre psychedelischen Pfade einschlugen, ließen The Kinks dieser Neigung so richtig ihren Lauf, als sie 1969 auf "Australia" eine Reise nach Sydney erträumten. Dieser pure Psychedelic Rock brauchte seine sieben Minuten. Gleichwohl trugen schon 1966 eines ihrer Artworks und "Where Have All The Good Times Gone", die B-Seite von "Til The End Of The Day", psychedelische Züge. Damit schlugen The Kinks noch vor Pink Floyds Debüt-Single diese Richtung ein. Und "I'm Not Like Everybody Else" kreuzt (damals futuristische) Garage-Riffs mit Folkpop-Harmonien.

Überhaupt rechtfertigen alleine schon die vielen guten B-Seiten die ganze Compilation: "Mindless Child Of Motherhood" war die Rückseite der berühmten "Lola"-Vinyl-Single. Der sehr empfehlenswerte Song war mir als Kinks-Fan bisher komplett entgangen. "Mindless Child Of Motherhood" vertritt die harte Seite der Gruppe und lärmt als betörendes, wildes Prä-Stoner Rock-Preziosum. Der 1970 veröffentlichte Track behandelt Daves lange währende Beschäftigung mit Sue Sheehan, seiner ersten Liebe, deretwegen er mit 15 ohne Abschluss von der Schule geschmissen wurde, weil eine Sexualbeziehung Minderjähriger als unsittlich galt und sie in einem Park beim Anbandeln erwischt wurden. Die Beziehung lag weit zurück, verfolgte Dave jedoch seelisch weiter, auch als er 1970 schon mehrfacher Familienvater mit einer anderen Frau war.

Aus dem zeitgleich erschienenen "Lola"-Album taucht hier noch "Strangers" auf. Die schwer schlurfende Rock-Ballade mit Klavier und zeternden Gesängen betont noch einen weiteren Aspekt des Releases: Alles wurde remastered. In diesem Song hebt das Aufpolieren den Raumklang hervor, sogar im MP3 (Percussion rechts, Orgel mittig, Piano links im Kopfhörer). Das brokat-üppige Stück endet mit einem Snare Drum-Solo.

Die B-Seite von "Days" verkümmerte leider sehr lange als Jukebox-Rarität: "She's Got Everything" überzeugt als saftige Psychedelia. Zum tänzelnden Rhythmus gesellen sich ein Klavier, ein zweigeteiltes, langes E-Gitarren-Soli, Surf Pop-Twang und feinster Proto-Punk. Als B-Seite des lieblichen "Mr. Pleasant" schert das schroff-euphorische, verliebtheitstrunkene "This Is Where I Belong" aus. Musikalisch hört es sich wie die perfekte Antwort auf die amerikanischen Monkees an, und die waren ja ihrerseits eine Replik auf die Welle der 'British Invasion'.

Äußerst angesagt bei den Größten aus Folk, Rock und Beat-Musik war 1967 mal kurz Country-Rock, wovon "Act Nice And Gentle" ein Zeitzeugnis ablegt - die UK-B-Seite von "Waterloo Sunset", die man für den amerikanischen Markt austauschte. Dort hatte man nämlich ein spezielles Problem - die Musiker durften dort keinen Dollar mit Performances verdienen.

Apropos, nutzen wir das 60 Jahre-Jubiläum für einiges Wissenswertes zu den übrigen Tracks und zur Songauswahl, chronologisch. "You Really Got Me" steht im Verdacht, 1964 von Jimmy Page geschrammelt worden zu sein. Er selbst und Produzent Shel haben das wiederholt dementiert. "Und genau das ist es, was ihn anpisst", sagte Page mal über Ray Davies in einem Interview mit dem Magazin SoundOnSound. Damit gehen im Bruder-Zwist der Familie Davies die Credits für eine der größten Erfindungen der Rock-Historie an den jüngeren Dave, dem Ray nie viel zutraute.

"You Really Got Me" quält dem Verstärker ein schiefes Power-Riff zum Einstieg ab, damals völlig unüblich, weder bei den Beatles noch im US-Rock'n'Roll bis dato ein Thema. Von Hard- und Heavy- über Punk- bis Industrial-Rock verdankt sich das Spiel mit Verzerrung und Rückkopplung diesem Sommerhit von '64.

Dave verstieg sich dazu, mit einer Rasierklinge seine Lautsprecher-Membran aufzuschlitzen, um eine künstliche diffuse raue Oberton-Klangkurve zu erzeugen. Später nannte man diese Ton-Sorte 'fuzzy', aus dem Indie-Rock der '80er, aus Post-Punk und Grunge nicht wegzudenken.

Auch die Nachfolgesingle schrieb History. Obwohl eine Kinks-Biographie aufdeckt, dass Schlagzeuger Mick und der erste Bassist Pete Quaife in den Sechzigern nur mager für ihre Dienste entlohnt wurden, machte alleine das Lied "All Day And All Of The Night" Bandleader Ray Davies zum Millionär. Attraktiv für Werbeagenturen, untermalten die vehementen Stromstoß-Riffs und der einfache Slogan des Refrains sowohl Werbespots für Autos, französischen Joghurt, Klamotten (mit Gisele Bündchen als Sängerin...), für Haar-Conditioner wie auch für Waschpulver.

Eine weitere Innovation gelang gegenüber den kamerascheu gewordenen Fab Four mit dem ersten nennenswerten Musikvideo-Clip zu "Dead End Street", 1966. Dafür wurde mal kein Material aus einem Fernsehstudio oder einer Konzerthalle genutzt, sondern eine draußen im Wohnviertel der Kinks gedrehte Story. Abgesehen davon ist der Song klasse, in Hinblick auf Harmonieführung, Rays markanten Gesang, das Band-Zusammenspiel und den scharfzüngigen Text. Der Tune gilt somit als Blaupause allen Britpops (neben dem ebenfalls satirischen "Sunny Afternoon").

Not macht erfinderisch. Das englische Spießbürgertum entwickelte sich aus einer schweren Einschränkung heraus zum Thema der Band. Die Kinks erhielten vom US-Berufsverband der Musiker*innen nach einer chaotischen Amerika-Tournee ein vierjähriges Auftrittsverbot in den Staaten. Entsprechend wussten die Gebrüder Davies über die Moden und Trends im Vorbildland aller Popkultur nicht mehr so recht Bescheid. Ray wandte sich für seine inhaltsreichen Lyrics voller invasiver Beobachtungen den very British Lebensgewohnheiten, Spleens und überkommenen piefigen Wertvorstellungen zu. Immer mehr Songs und schließlich ganze Alben sprudelten aus dieser Profilierung heraus.

Für "Village Green Preservation Society" (1968) hatte man bereits viel mehr Material als Platz. Vertreten sind hier das famose und beschwingte "Do You Remember Walter?" und "Last Of The Steam-Powered Trains" übers Ende der Dampf-Loks am eingangs erwähnten Bahnhof London-Waterloo. "Dieses Album zu machen war ein Höhepunkt meiner Karriere", urteilte der lange schon verstorbene Bassist Pete Quaife in Rob Jovanovics Buch "God Save The Kinks: A Biography". Denn er sei darauf "sehr stolz. Für mich stellt es das einzige wirkliche Album dar, das von uns allen gemacht wurde, zu dem wir alle etwas beigesteuert haben." - Ein Seitenhieb auf die Dominanz des Frontmanns.

Während die Beatles an ihrer freiwilligen Tour-Abstinenz keinen Schaden nahmen, brachen die Kinks in Übersee schnell ein. Weder am Monterey Pop noch in Woodstock konnten sie teilnehmen, wurden somit zweier wichtiger Chancen beraubt, sich einen Ruf als Open Air-Gruppe und Teil der Hippie-Bewegung zu erwerben.

Ihre aufwändigen Konzeptalben gingen somit unter, richteten sich thematisch aber auch sehr ans UK-Publikum, vor allem "Arthur And The Decline And Fall Of The British Empire" (1969). Vertreten ist davon neben dem spannenden, langen "Australia" das ebenfalls psychedelisch gefärbte "Shangri-La". Prominentester Song war dagegen das hier weggelassene "Victoria". Auf der Grundlage aller Songs sollte ein Fernsehfilm entstehen. Ray hatte es mit einem Drehbuchautor verfasst und erinnert sich in Jovanovics Band-Biographie:

"Ursprünglich war das als eine Art Rock-Oper gedacht. Wir waren soweit, dass wir hervorragende Schauspieler und einen exzellenten Regisseur gecastet und Schauplätze für den Dreh gefunden hatten und waren dabei loszulegen, als der Produzent zu einem Planungs-Meeting ging - ohne ein korrekt angegebenes Budget. Er versuchte sich durchzumogeln und in die eigene Tasche zu wirtschaften, wurde aber sofort ertappt und die Produktion abgeblockt. Ich war nie in der Lage, dem Mann zu verzeihen."

Nach einem Suizidversuch 1973 mit Valium und Alkohol diagnostizierten Psychiater bei Ray eine bipolare Störung. Auch wenn seine manisch-depressive Persönlichkeit den Output nicht senkte, lassen die folgenden LPs 1973 und '74 etwas den Adressatenbezug vermissen und werfen keine genialen Stücke oder gar Kommerz-Hits ab. Diese Zeit spiegelt sich kaum mit Beispielen in der Compilation - nur "Sitting In The Midday Sun" durfte mit drauf.

1975 bekamen die Kinks mit dem sehr hörenswerten "Schoolboys In Disgrace" wieder die Kurve. Das sehr gut getextete Hardrock- und Balladen-Album schwelgt in Erinnerungen an Charaktere zu Schulzeiten und an einzelne Fächer. Davon kündet schon das Cover-Artwork mit den Herren, die inzwischen Mitte-Ende Zwanzig sind, in Schuluniformen. "Sue und mein Rauswurf aus der Schule wurden hier miteinander verknüpft", ordnet Dave das Titelstück "I'm In Disgrace" in seiner Autobiographie "Kink" ein. Sue, seine erste Liebe, skizziert er als "hübsch, intelligent, groß, sie hatte große Brüste und schöne lange Beine. Sie schien mir die perfekte Frau zu sein."

The Kinks geben an, bei der Liederauswahl für "The Journey Part 1" die Geschichte von der "Mannwerdung" in der Pubertät und der Festigung der Identität über die Lust auf Abenteuer bis zur neuerlichen "Jagd nach Mädchen" erzählen zu wollen. Das liest sich hochgradig chauvinistisch. Dave Davies brachte es im wirklichen Leben auf sieben (bis acht?) Kinder mit mehreren Frauen, wobei mit Simon, Russell und Daniel Davies gleich mehrere ins Musikbiz strömten.

"I'm In Disgrace" adaptiert Glam-Rock aufs Feinste. "The Hard Way" taktet in AC/DC-Manier auf. Es beschreibt Rays inneren Kampf während seiner Abschlussprüfung an der Schule, als er sich den Aufgabenstellungen verweigerte, weil sie ihm als zu persönliche Charakter-Tests missfielen. "Ich schrieb meinen Name oben aufs Blatt und tat sonst nichts weiter während des restlichen Examens. Der Raum war still, bis auf die Geräusche des Kratzens der Stifte auf den Papieren, und in meinem Kopf hallte trotzdem eine triumphale Explosion, wie der erste Schuss aus einer Kanone in einer Schlacht."

"No More Looking Back" und das Klavier-Chanson "Schooldays" vertreten die sensible und sentimentale Seite von Ray. "No More Looking Back" zeigt sich in diesem Rückblick nicht nur als der 'jüngste' Song, sondern auch als stark unterschätzter Brückenschlag. Nichts von den Kinks hätte besser zu Woodstock gepasst als dieses Blues-Riff, mit dem Dave sich perfekt zwischen Stephen Stills und Jerry Garcia einreiht. Es umrahmt die Strophen, während der Refrain auf zarten Keyboard-Pop herunter dimmt. Die Bridge lässt Jazzfunk-Bläser ertönen. Alles wuselt in einem Lied durcheinander und führt die Lust am stilistischen Herumprobieren vor Ohren und fügt einige brillante Facetten dieser Band sauber zusammen.

"The Journey Part 1" enthält zwar viel weniger Tracks als "The Anthology 1964-1971" aus der Sony Legacy-Serie. Verzichtet wird darauf, jeden Song in Mono, Stereo und live darzubieten oder chronologisch durchzumarschieren. Es geht nicht um die Hits oder Essentials, sondern um einen Sinnzusammenhang zwischen den Tracks. Der wird zwar nicht so deutlich, aber ein neuer Blick auf die Band entsteht schon, vor allem musikalisch. Und obwohl Daves Kompositionen weitgehend missachtet wurden, kehrt diese neue Box besonders deutlich seine starke Leistung an der Lead Guitar hervor.

Der Einfluss des Frühwerks der Pioniere hallt heute in über 10.000 Coverversionen, bei Britpop-Bands wie Blur und Supergrass und im Stil aktueller Songwriter wie Badly Drawn Boy oder Ben Folds unverkennbar nach. Der Kinks'sche Blick auf die Welt und speziell auf ein bestimmtes Milieu in London findet sich lange nach ihrer aktiven Zeit in Romanen von Nick Hornby wieder, in Filmen mit herumstolpernden, aber ziemlich netten Antiheld*innen wie etwa "Notting Hill" oder der "Bridget Jones"-Serie. Das eigene Band-Jubiläum zu feiern ist eine gute Idee, denn dem Rückblick stehen keine peinlichen oder künstlerisch selbst-verleugnenden Releases gegenüber. Die enorme Relevanz der Kinks ist unbestreitbar. Was sie auf ihrer "Journey" machten, hatte stets Hand und Fuß.

Trackliste

CD1: Abenteuersuche, Identitätsfindung - 1964+65 + Schooldays-LP 1975

  1. 1. You Really Got Me
  2. 2. All Day And All Of The Night
  3. 3. It's All Right
  4. 4. Who'll Be The Next In Line
  5. 5. Tired Of Waiting For You
  6. 6. Dandy
  7. 7. She's Got Everything
  8. 8. Just Can't Go To Sleep
  9. 9. Stop Your Sobbing
  10. 10. Wait Till The Summer Comes Along
  11. 11. So Long
  12. 12. I'm Not Like Everybody Else
  13. 13. Dead End Street
  14. 14. Wonderboy
  15. 15. Schooldays
  16. 16. The Hard Way
  17. 17. Mindless Child Of Motherhood
  18. 18. Supersonic Rocket Ship
  19. 19. I'm In Disgrace
  20. 20. Do You Remember Walter?

CD2: Bedauern, Reflektieren, Neuanfänge, 'Jagd nach Mädchen' 1965-73

  1. 1. Too Much On My Mind
  2. 2. Nothin' In The World Can Stop Me Worryin' 'Bout That Girl
  3. 3. Days
  4. 4. Last Of The Steam-Powered Trains
  5. 5. Where Have All The Good Times Gone
  6. 6. Strangers
  7. 7. It's Too Late
  8. 8. Sitting In The Midday Sun
  9. 9. Waterloo Sunset
  10. 10. Australia
  11. 11. No More Looking Back
  12. 12. Death Of A Clown
  13. 13. Celluloid Heroes
  14. 14. Act Nice And Gentle
  15. 15. This Is Where I Belong
  16. 16. Shangri-La

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