laut.de-Kritik

60s-Avantgarde mit Stories zu Drag Queens und Karriere-Dandys.

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Schon vor den "Psycho Killers" der Talking Heads gab es einen "fa-fa-fa fa"-Song: "David Watts" von den Londoner Kinks. Hier porträtieren sie wieder mal einen Charakter, in diesem Fall bewundernd, "ich wünschte, ich könnte wie David Watts sein". Das Lied ist eher fragmentarisch, anders als so manch perfekt durchkomponiertes Werk der Band. Mitte der '60er hatte sie in England viele Hits, mit "Lola" 1970 ihren in Deutschland größten, und Anfang der '80er feierte sie in den USA ein kommerzielles Pop-Comeback, bevor sie (mit einem ihrer besten Alben) vor nunmehr 30 Jahren auseinander bröselte.

Auf "The Journey Part 2" erscheint "David Watts" neben 33 anderen Kleinoden, herausgelöst aus den Konzept-Überbauten der zugehörigen Alben. Besonders die unscheinbaren Lieder geraten so noch mal in den Fokus. Das ironisch schmachtende "A Well Respected Man" gehört in dieser Kollektion zu den bekanntesten Tunes. Die Nummer funktionierte mit einer geringen Oktav-Spanne, mit einem Minimum an Akkorden. Doch der Gesang der beiden Brüder Davies reißt viel heraus, erhob die simple Komposition zum Hit.

Sie zelebrieren das Gefühl, das alternativ lebende und progressiv denkende Bürger*innen oft verspüren, wenn sie zu lange mit vorzeige-konservativ gepolten Leuten diskutieren und die in ihrer Kopfstarre nicht verletzen möchten. Gestalten wie Philipp Amthor etwa, denen man nur die monotonste Melodie der Welt auf den Leib komponieren kann. Man stimmt diesen jungen "well respected" Karrieristen dann freundlich zu und versucht, weil nichts anderes zugelassen wird, sie in ihrem engen Selbstbild zu bestätigen. Am besten lobt man dann noch, wie toll sie aussehen - im England der Mods damals ein großes Thema! Kinks-Klassiker wie dieser brachten immer die Personen in den Geschichten zum Leben.

Anknüpfend an "The Journey - Part 1" bietet Teil Zwei den interessanten 'Best Of The Rest'. Wo die chronologische Fortführung der langen Geschichte dieser Band nach 1975 zu erwarten war, wird man als Fan aber noch mal auf dieselbe "Journey"-Route von 1963 bis 75 inklusive dem Release "Soap Opera" geschickt. Garage-Rock wie "Monica" taucht auf, andererseits Country-Twist in "Scrapheap City". "Diese Single wurde schnell aus dem RCA-Katalog gelöscht", heißt es entschuldigend auf einer Second Hand-Verkaufsplattform zu den geringen Stückzahlen mit dieser B-Seite. Hier haben wir sie nun!

Fürs zugehörige "Preservation Act 2", ein als Musical konzipiertes Brimborium, leisteten sich The Kinks bei zugleich drastisch sinkenden Verkaufszahlen zusätzlich feste Mitglieder für eine Bläser-Sektion. Plus vier Background-Ladies namens Angi, Maryann, Pamela und Sue. Eine ergreift hier sogar für den Lead-Gesang das Mikro. Nach dem Markenkern der Kinks klang das nur noch entfernt. Diese Band blieb eben nie stehen.

Gewiss verprellte sie mit ihren Kurswechseln immer wieder Follower. Ich liebe ihr Gesamtwerk mit wenigen Song-Ausnahmen und wurde ihr Follower wegen ihres "Follower"-Lieds und aufgrund eines Zufalls, einem der seltenen Fälle, bei denen die Band im Radio lief. Es war eine Wunschsendung. Ein Hörer hatte sich "Dedicated Follower Of Fashion" über den Dandy-Look an der Themse gewünscht. Das hat einen unwiderstehlichen Groove in den Gitarren-Riffs. Es sprengte meine bis dahin von den Beatles und Manfred Mann geprägten Vorstellungen von Beat-Musik der Sixties.

The Kinks hatten was Bissiges, und dann diese näselnde und doch glockenhelle Stimme von Ray Davies. Da war was! Und es machte mich zum ewigen Follower. Im Plattenschrank meiner Eltern fand ich dann ein uraltes Billig-Best Of einer längst verblichenen deutschen Firma, die für Kaufhäuser "Greatest Hits" im Format 30 (statt 19) Minuten pro Vinyl-Seite presste und wo man die Leerrillen kaum erwischte. Kein so gutes Best Of, wie das jetzt vorliegende, bei weitem nicht!

Zu entdecken gibt's bei The Kinks gefühlt unendlich viel. Sie vollbrachten den psychedelischen Blues, der Syd Barretts Pink Floyd, The Velvet Underground und Rolling Stones in einem sein konnte, wie im genial schrägen, scharf verstimmten "Creeping Jean".

David Bowies späterem Werk, auch Lou Reed greift das fantastische "Rainy Day In June" mit Gewitter-Geräuschkulisse vor. Ray Davies singt hier zittrig, und aufmerksame Klangdetektiv*innen werden hier zart sprießende Ansätze erspüren, die in Reeds "Perfect Day" und Bowies "Major Tom" weiter blühen. Auf "Face To Face" veröffentlichten The Kinks das Stück ursprünglich. "Wicked Annabella" ist ein Prototyp von Glam und Grunge in einem Paket.

Barockpoppige Cembalo-Lieblichkeit wie in "Two Sisters" vom edlen Album "Something Else By The Kinks" zählte so selbstverständlich zum Programm wie Softrock-Boogie-Jazz mit Schauspiel-Einlage: "Holiday Romance" aus "Soap Opera". Stringenter Orgel-Artpop wie im raren "Lincoln County" (keine Single, kein Album, nur hier) trifft auf verwaschenen Folk-Blues mit Schrammelei und Rückkopplung, wie im kultig benebelten "See My Friends" (von "Kinks Kingdom" bzw. "Kinks", dem ersten Album).

Der ausgelassene Novelty-Southern Rock "Money Talks" beschied sich bisher auf ein Single-Dasein, war selbst mir als "Dedicated Follower" unbekannt und ist so ein klassischer Titel fürs (Hard) Rock-Café und auf jeden Fall ein essenzieller Burner mit typischem Davies-Humor, Freude am schrillen Übertreiben und an ordentlichen Rock'n'roll-Riffs. In punkto Prä-Punk existiert sogar noch mehr als "All Day And All Of The Night" und "You Really Got Me", nämlich "I Need You" vom Debüt.

So wie sich die Beatles die obligatorische George-Quote für wenige, aber immer hammerstarke 'Harrisongs' auferlegten, so räumte Ray Davies seinem jüngeren Bruder Dave oft einen Track pro Album ein, um den Zusammenhalt der Band nicht zu gefährden. Dave arbeitete frustriert die ganzen Siebziger auf ein Solo-Album hin, das lange unter dem Arbeitstitel "The Album That Never Was" im Wolkenkuckucksheim zirkulierte, bis es erst 2018 spät erschien.

Die Konkurrenz zwischen den Geschwistern war für die Qualität und Kreativität anscheinend gut. Daves Teenie-Lovestory "Susannah's Still Alive" bleibt ein zeitloses Highlight des Katalogs, als verquere Kombi aus bräsiger Mundharmonika und einer eingängigen chromatischen Tonfolge, auf der Lead Guitar. Dave lieferte ab.

Mod-Pop mit einer Prise Northern Soul in "He's Evil" bietet eine weitere Klangfarbe dieser versatilen Gruppe, die nicht nur wegen der Einfälle klasse war, sondern ebenso aufgrund der brillant musizierten Umsetzung. Die Charts-Nuggets "Sunny Afternoon" und "Lola" sowie ein paar Live-Aufnahmen einschließlich des sowieso raren Sammelstücks "Slum Kids (Live)" runden die Compilation ab.

Das Wichtigste zum einschneidenden Lied "Lola": Die Band änderte ab diesem Song ihre Besetzung. John Gosling, der im August leider starb, spielt das federnde Bar-Piano, zuvor hatte die Gruppe keinen Tastenspieler. Als Keyboarder hielt er's acht Jahre lang mit den streitenden Brüdern Dave und Ray aus. Der charakteristische Start von "Lola" lässt zwei Lead-Gitarren folkig gegeneinander klimpern und reiben (ein Arrangement von Dave), bis der Tune in Seventies-Hardrock überwechselt. In der Mitte findet eine Bridge-Sequenz mit einer Wendung in der Story und einem inneren Monolog statt. Musikalisch zerfällt diese Bridge in ein pushy steigerndes Aufspielen und eine abflauende Acoustic-Passage, die den Refrain abwandelt. Das Lied bricht kurz mit dem Hardrock. An insgesamt neun Stellen in vier Minuten spielt die Band den Refrain oder einen Teil davon an - ungewöhnlich!

Hinter der Geschichte steht ein tatsächliches Erlebnis mit einer oder mehreren Drag Queens in Paris und/oder London, wobei sich The Kinks wie bei vielen Fragen auch hier nicht einig sind. "Der Name The Kinks zog solche Leute an", erläutert Ray das Verhalten eines nervigen Nachtclub-Inhabers in Nick Hasteds Biographie "You Really Got Me: The Story Of The Kinks", die übersetzt 'Die Ausgeflippten' heißen, im sexuell anzüglichen Sinn (und eben nicht 'Kings'). Bandmitglieder und ihr Manager wurden in Etablissements gelotst, wo Männer von muskulösen Männern in Frauenkleidern verführt wurden. Die auflösende Zeile "I'm glad I'm a man / and so is Lola" führte zum Fade-Out mitten im Track bei manchen Radiostationen, und teils wurde die Zeile sogar heraus geschnitten, wie Doug Hinman in seiner Chronik "The Kinks: All Day And All Of The Night" und Rob Jovanovic in "God Save The Kinks" übereinstimmend ausführen.

Eine andere Zeile musste Ray auf Druck der BBC austauschen und aus einem Markennamen das Getränk Cherry-Cola machen. Einerseits kamen all die Sender um die Nummer nicht herum, weil sie sich bis nach Australien sehr gut verkaufte, andererseits lohnte sich der Stress für die Band. Hätten sie nach zweieinhalb mauen Jahren nicht nochmal die Charts geknackt, hätten sie sich wohl getrennt, wie der jüngere Davies im selben Jahr gesagt haben soll. Von "Lola" kursieren zahlreiche Covers, zum Beispiel von Robbie Williams und Travis. Die coole Instrumental-Fassung aus dem Kinks-Film-Soundtrack "Percy" fehlt in dieser "Journey - Part 2". Der Soundtrack ist aber mit "God's Children" vertreten.

Sechs Stücke der Doppel-CD muss man auf der Doppel-Vinyl "The Journey - Part 2" missen, jedoch fast keine der hier hervor gehobenen, nur dummerweise den rarsten Song, das sehr hörenswerte "Lincoln County". An ein Comeback der Band habe ich Anfang des Jahres noch geglaubt, mittlerweile wurde Ray aber in schlechter Kondition gesichtet, John ist tot, eine klare öffentliche Versöhnung der anderen steht aus, Interviews gibt's kaum noch. Um so wichtiger, das fantastische Lebenswerk dieser Musiker noch mal in der Tiefe zu entdecken!

Trackliste

CD1

  1. 1. Till The End Of The Day
  2. 2. Preservation
  3. 3. David Watts
  4. 4. This Time Tomorrow (Alternate Take, 2020 Mix)
  5. 5. A Well Respected Man
  6. 6. Monica
  7. 7. Scrapheap City
  8. 8. He's Evil
  9. 9. Lola
  10. 10. Sunny Afternoon
  11. 11. Animal Farm
  12. 12. Creeping Jean
  13. 13. Two Sisters
  14. 14. See My Friends
  15. 15. Money Talks
  16. 16. No Return
  17. 17. Don't You Fret

CD2

  1. 1. I Need You
  2. 2. Rainy Day In June
  3. 3. Dedicated Follower Of Fashion
  4. 4. Where Are They Now? (2023 Mix)
  5. 5. Wicked Annabella
  6. 6. Alcohol
  7. 7. Susannah's Still Alive
  8. 8. 20th Century Man
  9. 9. Sitting By The Riverside
  10. 10. Artificial Man (2023 Mix)
  11. 11. Starmaker (Live)
  12. 12. Slum Kids (Live)
  13. 13. Face In The Crowd (Live)
  14. 14. Holiday Romance
  15. 15. Big Sky
  16. 16. Lincoln County
  17. 17. God's Children

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