laut.de-Kritik
Das perfekte Bindeglied zwischen Breakbeat Hardcore und Big Beat.
Review von Toni Hennig1992 kreuzten The Prodigy auf "Experience" Breakbeat Hardcore mit Dub-, Reggae-, Rap-, Jungle- und Acid House-Elementen. Dabei trieben sie den Hardcore-Sound geradezu parodistisch auf die Spitze, stiegen aber auch gleichzeitig zu Vorreitern der Rave-Kultur in den 90er-Jahren auf. Für "Music For The Jilted Generation", das am 4. Juli 1994 auf den Markt kam, nahm sich Soundtüftler Liam Howlett frei von kommerziellen Zwängen alle kreativen Freiheiten, um eine noch bessere, viel größere Platte zu komponieren. Produzent Neil McLellan stand ihm während dieser Zeit zur Seite. Am Ende schoss die Scheibe in den britischen Albumcharts von Null auf Eins und verkaufte sich über eine Millionen Mal.
Inhaltlich gilt das Album als Reaktion auf die Mainstream-Korrumpierung der britischen Rave-Szene und den Criminal Justice and Public Order Act, der Raves und Teile der Rave-Kultur kriminalisierte. In den Credits heißt es: "How can the government stop young people have a good time?" Die passende Antwort The Prodigys darauf: "Fight the bollocks."
Als ikonisch wird das Innenartwork von Les Edwards angesehen, das viele als künstlerischen Wink auf den Criminal Justice and Public Order Act verstanden haben: es zeigt einen langhaarigen Raver zeigt, der der Polizei den Mittelfinger entgegenstreckt. Ungefähr zwei Wochen nach Veröffentlichung der Platte marschierten etwa 50.000 Raver vom Hype Park zum Trafalgar Square, um gegen das Gesetz zu protestieren. Dabei handelte es sich laut Liam Howlett jedoch lediglich um einen "Zufall", hatte er sich doch schon längst für das Bild entschieden, bevor die hässliche Seite des Criminal Justice and Public Order Acts zum Vorschein kam.
Die rebellische Message hatte dennoch etwas Zeitloses, wie Les Edwards 2014 in einem Interview erklärte: "Ich bin so etwas wie ein alter Hippie, aber es scheint mir die selbe Message zu sein, die man in den 60ern gehört hat, dass Menschen Regierungen kritisieren, tyrannisch zu sein."
Musikalisch gibt es auf "Music For The Jilted Generation" viele Querverweise auf den rebellischen Spirit Mitte der 90er-Jahre, wie etwa im Intro ("So, I've decided to take my work back underground ... to stop it falling into the wrong hands") oder in "Their Law", wenn es lautet: "Fuck 'em and their law". Für "Their Law" holte sich die Formation aus dem britischen Braintree Schützenhilfe von den Grebo-Pionieren von Pop Will Eat Itself. In dem Song entfachen die beiden Bands ein wahres Feuerwerk, bestehend aus Sprachfetzen aus Filmszenen, harten Metal-Riffs, wummernden Bässen und euphorischen Rave-Einschüben. Damit stießen sie die Tür weit auf für das, was paar Jahre später britische Musikjournalisten unter dem Begriff Big Beat zusammenfassten.
Die Scheibe enthält noch zwei weitere rockige Tracks. "Voodoo People" lädt mit hektischen Breakbeats, Flötenklängen, dröhnender Elektronik, einem an Nirvanas "Very Ape" angelehnten Riff, das Lance Riddler spielt, und der legendären Zeile "magic people, voodoo people" zum Headbangen ein, während an jeder Stelle der Abgrund lauert, wie das von Walter Stern und Russell Curtis in Saint Lucia gedrehte, dazugehörige Video beweist. Das handelt von mysteriösen Voodoo-Praktiken und fiel wegen ein paar Szenen mit echten Hexen-Doktoren der Zensur zum Opfer. Von nun an sollten The Prodigy Sittenwächtern und besorgten Eltern regelmäßig schlaflose Nächte bereiten.
Auch das verstörende Video von "Poison" sah man auf MTV nur zensiert. Für das Stück steuerte Maxim Reality, MC der Band, auch Lyrics bei. Zuvor hörte man seine Stimme schon im abschließenden Livetrack von "Experience", "Death Of The Prodigy Dancers". Musikalisch fasst "Poison" mit kraftvollen Riffs, rohen Drumsamples, viel elektronischem Lärm und aggressiv psychotischen Shouts alles zusammen, was über die Jahre hinweg die Erfolgsformel der Briten sein sollte.
So lässt sich "Music For The Jilted Generation" trotz seiner antikommerziellen Haltung als "gepflegtes Fuck-You an die Underground-Trendsetter" verstehen, mit dem Selbstverständnis, es besser zu "machen, als sie "alle", wie es Andrew Harrison im August 1994 im Select Magazine formulierte. Und dass Liam Howlett mit der Scheibe zumindest große Teile der Konkurrenz weit überfügelte, lässt sich kaum bestreiten.
Man muss einfach nur "No Good (Start The Dance)" auflegen, ein Song, der mit einer hochgepitchten Stimme, die etwas von einem nicht existierenden Körper singt, das Lebensgefühl von Underground-Partys auf den Punkt bringt. Wer bei dieser Stimme, den Breakbeats und der euphorisierenden Rave-Melodie nicht mittanzt oder mitsingt, hat die 90er-Jahre nicht wirklich miterlebt. Im Video sieht man Liam Howlett während eines Underground-Raves mit einem Vorschlaghammer eine Wand zertrümmern. Zwar ebnete schon zwei Jahre vorher die Single "Out Of Space", die in verschiedenen Ländern in die Top 30 einstieg, The Prodigy den Weg in den Mainstream, doch wirkte das Video wie ein Befreiungsschlag vom zu eng gewordenen Undergroundkorsett. Der Erfolg gab den Briten recht. Der Track hielt sich ganze 22 Wochen in den deutschen Singlecharts.
Dennoch hält die Band an vielen Stellen an ihren Underground-Wurzeln fest. Als Paradebeispiele gelten das flotte "Speedway (Theme From Fastlane)", das mit Acid-Geblubber und trancigen, auf- und abebbenden Melodiefolgen dazu einlädt, mit dem Auto durch die Gegend zu düsen, sowie die von durchgeknallten Momenten und flächigen Tönen geprägten "Full Throttle" und "One Love (Edit)", die noch an den Sound von "Experience" anknüpfen. Zwar kam Liam Howlett später zu der Erkenntnis, dass er die beiden letztgenannten Songs auch gut aus der Tracklist hätte streichen können. Jedoch bleiben sie für den Albumfluss unabdingbar. "Full Throttle" leitet nämlich perfekt in "Voodoo People" über und "One Love (Edit)" lässt bis zum großen Finale, der dreiteiligen "Narcotic Suite", kurze Zeit zum Durchatmen.
In die Suite lässt Liam Hewlett all seine Fähigkeiten als Beat- und Soundtüftler einfließen, sie markiert den künstlerischen Höhepunkt in der Karriere The Prodigys. Sie beginnt mit "3 Kilos", das mit Flöten, kreisenden Rhythmen, swingenden Pianofiguren und knarzender Elektronik in psychedlisch trancige Gefilde führt und zeigt, dass man die Briten nicht nur ausschließlich auf ihre rockigen Nummern beschränken sollte. "Skylined" durchziehen danach rituelle Trommelsounds, ein mysteriöses "Akte X"-Sample sowie eine psychotische Synthiemelodie, der besten des gesamten Albums. "Claustrophobic Sting" rundet die Scheibe als musikalischer LSD-Horrortrip, bestehend aus bleepigen Klängen, heftigen Drum- und Snare-Schlägen und einer bedrohlichen Stimme, die "my mind is blowing" flüstert, auf abgründige Weise ab.
2008 erschien noch mit "More Music For The Jilted Generation" eine remasterte Neauauflage mit B-Seiten, alternativen Mixen und Live-Versionen auf Bonus-CD, darunter auch der coole The Chemical Brothers-Remix von "Voodoo People", die sich damals noch The Dust Brothers nannten (nicht zu verwechseln mit dem US-amerikanischen Produzentenduo gleichen Namens, das sich für den großartigen "Fight Club"-Soundtrack von 1999 zuständig zeichnet).
"Music For The Jilted Generation" schlägt so perfekt die Brücke zwischen Breakbeat Hardcore und Big Beat, dass man sich fragt, was danach von The Prodigy noch groß hätte kommen sollen. Die Antwort lieferten die Briten am 18. März 1996 mit "Firestarter" vom Album "The Fat Of The Land", das Keith Flint, zuvor neben Leeroy Thornhill Tänzer in der Band, schlagartig zur exzentrischen Aushängefigur der Truppe machte. Das dazugehörige Album "The Fat Of The Land", mit dem die Formation endgültig mit beiden Beinen im Big Beat stand, erreichte rund eineinhalb Jahre später in den USA die Pole Position. Der Rest ist eine von künstlerischer Stagnation und von adrenalinreichen Live-Shows geprägte Geschichte, die immer noch vom Tod Keith Flints am 4. März 2019 überschattet wird.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
6 Kommentare
Kindheitserinnerungen, ewig nicht mehr gehört
No Good und Voodoo People waren damals echte Bretter und sind auch heute noch ziemlich geil, wenn auch eindeutig aus den 90ern. Zurecht Legende. Nach Out of Space damit um die Ecke zu kommen und danach mit Firestarter nochmal erfolgreicher zu werden war schon eine Leistung. Verdienter Meilenstein.
Dürfte sich in meinen Top 5 of all time befinden. Elektrisierend vom ersten bis zum letzten Ton. Ein Meisterwerk.
Zusammen mit dem Nachfolger eine der prägenden Platten der 90er, nicht nur im Rave-Sektor. Mit fast 80 Minuten aber auch ganz schön anstrengend.
Hab die Dank anhaltend gutem Einfluss geachmackssicherer älterer Freunde zur VÖ im zarten Alter von frisch gebackenen 13 Jahren käuflich erworben und war trotz damals vorherrschender Distortion-Affinität im Musikgeschmack zu keiner Zeit und keiner Spielminute der Platte wirklich enttäuscht über diesen Kauf.
Auch weil ich inzwischen über die noch angestaubter klingende Soundpalette als beim Nachfolger großzügiger hinweghören kann als noch vor 10-15 Jahren hab ich sie in all der Zeit locker doppelt so häufig durchgehört als die "Fat of the Land". Ein ambitioniertes Remake der "Musoc for..." von Howlett mit moderner Soundpalette und Produktionstechnik würde ich dennoch genauso sehr begrüßen wie bspw. nach wie vor auch eine pfiffig umgesetzte Coverversion von "No Good" von einer Hartmetallkapelle mit zwei (E-)Drummern live...
Möchte aber auch den wieder einmal großartigen Text hierzu von Toni belobigen. Zwar entsteht der Eindruck, dass durch unsere vielen geteilten Meilenstein-Ansichten seine neuen Texte zu alten Lieben mich eh noch Mal emotionaler anrühren als seine regelmäßig vernischten Neuvorstellungen, dass dies aber nicht bloß verzerrte Wahrnehmung meinerseits ist entnahm ich dem vorliegenden Beispiel dem Absatz zu "Skylined " aus der Narcotic Suite, der einfach exakt beschreibt, was mir beim hören der Suite ebenfalls schon ewig durch Kopf, Bauch und Beine geht. Famos gelungen! "Climbatized" vom Nachfolger scheint dieses Gefühl aus "Skylined" imo strukturell nochmal nachstellen zu wollen, gelingt Howlett dort aber deutlich weniger mitreißend als in der Suite.
Das Album ist ein absolutes Meisterwerk der Ravekultur der 90er-Jahre und aufgrund seiner musikalischen Vielseitigkeit auch ein absolutes Meisterwerk der elektronischen Musik.
Das Album erinnert vom Aufbau und den Übergängen stark an ein Konzeptalbum.
Absolute Highlights für mich:
Their Law
Poison
Voodoo People
Skylined
Beeindruckend finde ich, dass dieses Album auch heute noch absolut modern und zeitgemäß klingt.