laut.de-Kritik

Eine musikalische Collage.

Review von

Selten hat ein Cover den Inhalt des dazugehörigen Albums so treffend widergespiegelt wie im Fall von "...And Then You Shoot Your Cousin". Ebenso bruchstückhaft wie das 1964er-Artwork von Collagen-Künstler Romare Bearden präsentiert sich der elfte Langspieler der Roots.

Wenn bereits nach 33 Minuten, und damit noch einmal fünf Minuten früher als beim famosen Vorgänger "Undun", das letzte Rauschen in "Tomorrow" das Ende der Platte andeutet, stellt sich unweigerlich die Frage: Was war das? So viel vorweg: Mit "...And Then You Shoot Your Cousin" haben The Roots ein Album erschaffen, das ihre eigenen Spuren teils noch stärker verwischt als die 2013er-Kollabo mit Elvis Costello.

Der erste Durchlauf von "ATYSYC" gestaltet sich so unbefriedigend wie nie zuvor bei einem Werk der Combo aus Philadelphia. Zu verwirrend, zerstückelt und vertrackt bahnt sich die Platte den Weg aus den Boxen.

Die einzige Antwort auf die vielen aufgeworfenen Fragen: das Album erneut hören. Immer und immer wieder. Doch auch nach mehreren Anläufen löst sich die Sperrigkeit nicht in Luft auf. Die einzelnen Fragmente lassen sich weiterhin nur mühsam zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Das müssen sie aber auch gar nicht.

Wie Rapper Tarik "Black Thought" Trotter bereits im Vorfeld ankündigte, handelt es sich bei "ATYSYC" erneut um ein Konzept-Album. Anders als "Undun" beschreibt der elf Tracks umfassende Langspieler die Gesellschaft jedoch aus mehreren verschiedenen Perspektiven, die sich in den zahlreichen Features wiederfinden.

Jederzeit bestimmen die Gastbeiträge die einzelnen Songs, in rund der Hälfte der Stücke hält sich Black Thought gar komplett zurück. Aus der erzählerischen Multiperspektivität resultiert so auch musikalisch großer Facettenreichtum.

"Theme From The Middle Of The Night", das Nina Simones "Middle Of The Night" sampelt, läutet eine melancholische Grundstimmung ein, die sich im weiteren Verlauf zur düsteren Abwärtsspirale entwickelt: "Spirallin' down, destined to drown." Das nächtliche Thema setzt sich in "Never" fort, wenn Patty Crash, begleitet von Chören und Keys, in den Schlaf wiegt, bevor Questlove an den Drums gemächlich Fahrt aufnimmt.

Nach einem kurzen instrumentellen Interlude, das fast schon an die verstörenden Spätwerke Scott Walkers erinnert, setzt endlich Black Thought ein. Erhellend wirkt sein Vortrag jedoch kaum: "I was born faceless in an oasis / Folks disappear here and leave no traces / [...] I'm stuck here can't take a vacation / So fuck it, this shit is damnation", beschreibt er die Sicht eines Charakters, der sich der Ausweglosigkeit seines Lebens hingegeben hat.

Freudige Zukunftsaussichten kann der MC als "sex-addicted introvert" in der ersten Single "When The People Cheer" genauso wenig bieten. Mit spärlichen Klavier-Klängen und gängiger Verse-Hook-Struktur erweist sich der Song aber deutlich zugänglicher und stellt eines der Highlights der Platte dar. Dazu zählt ohne Zweifel auch "Understand", das mit souliger Orgel und Handclaps erstmals nicht nur das Tempo, sondern auch die Stimmung anhebt.

Dabei reiht sich "Understand", getragen von seinem kirchlichen Soundgerüst, nicht nur klanglich, sondern auch textlich in die vielen Songs auf "ATYSYC" ein, die ein göttliches Motiv aufgreifen. Gastrapper Dice Raw beschreibt mit sarkastischem Unterton die Hoffnung auf eine höhere Macht, gleichzeitig aber das fehlende Vertrauen in eben jene: "People ask for God 'till the day he comes / See God's face - turn around and run."

Überhaupt tragen Dice Raw, der auch im jazzlastigen "Black Rock" die Hauptrolle spielt, und Greg Porn mindestens genauso viele Rap-Parts bei wie Black Thought selbst, lassen letztendlich aber den beherrschenden Gesangsparts den Vortritt. Mit Stücken wie der Piano-Ballade "The Coming" von Mercedes Martinez, die in experimentellem Tastengehämmer endet, oder dem von Raheem DeVaughn vorgetragenen "Tomorrow" schaffen The Roots einmal mehr ein Klangbild, das ihre eigene Definition von Hip Hop weiterentwickelt.

Hinzu kommen das obskur avantgardistische Geräusch-Wirrwarr des französischen Komponisten Michel Chion in "Dies Irae" und Mary Lou Williams' "The Devil", zwei Stücke, die den Hörfluss von "ATYSYC" zwar unterbrechen, die düstere Stimmung aber ausgezeichnet untermalen. Diese Zwischenspiele wirken zwar merkwürdig deplatziert, passen so aber wiederum bestens in das facettenreiche Mosaik aus vielseitiger Instrumentierung und experimentellen Ansätzen, die hier und da mehr nach Live- als nach Studioalbum klingen.

Keine Frage, "...And Then You Shoot Your Cousin" ist das bislang sperrigste Werk der Roots, das nach einiger Eingewöhnungszeit aber eine erstaunliche Sogwirkung entwickelt. Angetrieben von mitreißenden Tracks wie "When The People Cheer", "Understand" und "The Dark (Trinity)" entpuppt sich das Album als spannende und abwechslungsreiche Mixtur aus vielen Elementen, die erst nach dem zigsten Durchlauf eine lose musikalische Collage ergeben.

Trackliste

  1. 1. Theme From The Middle Of The Night
  2. 2. Never
  3. 3. When The People Cheer
  4. 4. The Devil
  5. 5. Black Rock
  6. 6. Understand
  7. 7. Dies Irae
  8. 8. The Coming
  9. 9. The Dark (Trinity)
  10. 10. The Unraveling
  11. 11. Tomorrow

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