laut.de-Kritik

DIY-Musik im Endstadium.

Review von

Diese verdammten Indie-Alben. Alle paar Jubeljahre kommt ja wirklich eines, das einen richtig kalt erwischt. Eine Platte, die man hört und hört und hört - und man wird trotzdem überhaupt nicht schlau daraus. "Colourgrade" von Tirzah ist so ein Album.

Was sich als ein Konzeptplatte über die Geburt ihres Kindes und das Tourleben nach der Veröffentlichung des Debüts erklärt, gestaltet sich als eine sperrige Aneinanderreihungen von minimalen MIDI-Drums und simplen, unzugänglichen Melodie-Loops. Es ist DIY im Endstadium, so genuin schroff und verkopft, dass es über weite Teile der langsam voranschreitenden Stücke schwer fällt, überhaupt eine emotionale Reaktion zu formulieren. Oft bleibt nur dieser 'Okay, das ist Musik und existiert"'-Reflex.

Aber für normal prätentiöse Art School-Kacke kommt das trotzdem zu fesselnd. Ich hätte es nicht eine halbe Woche quasi im Loop gehabt, hätte ich nicht irgendetwas darin gehört. Warum also nicht über Schreibtherapie versuchen, dieses irgendetwas zu identifizieren?

Schon der Versuch, einen allgemeinen Zugriff zu bekommen, gestaltet sich als schwer. Weiß der Teufel, was hier Ornament und was Kernstück ist. Richtige Hooks gibt es nicht, viele Songs wandern ziellos von Loop zu Loop durch den Äther: Wo konzeptionell die Hook sein sollte, gibt es hier nur ziellos in die Songs eingeschaltete Sound-Elemente und Song-Enden, abgeschnitten und verknotet wie gekappte Seile.

"Beating" hat aber so einen Moment, der sich wie eine Erklärung der Mission anfühlt. Ja, die Zeile "We made life / It is beating" wirkt wie eine humoristische, irgendwie existenzielle Einordnung von Elternsein und markiert damit eine der lyrisch konkreten Sekunden des Albums. Aber es gab noch einen eindringlicheren Moment.

Irgendwann in der ersten Hälfte räuspert sie sich zwischen zwei Zeilen. Auf "Crepusculura Rays" passiert das in den letzten Minuten erneut. Ist das nun richtig plakatives Buhlen nach realen DIY-Vibes? Hat sie das Räuspern im Songwriting-Prozess aufgeschrieben und dann bei der Aufnahme geschauspielert, oder ist es einfach so passiert und man hat es gelassen? In jedem Fall - wenn ja, warum?

Dieses verdammte Räuspern beschäftigt mich jedes Mal, wenn ich das Album höre. Vielleicht, weil es der sonstigen Künstler-Persona so diametral entgegensteht. Ein zentrales Motiv von Text und Klang scheint der Kontrast zwischen Menschlichem und Maschinellem zu sein. Sie singt über kalte, mechanische Körper, belebt von Techno und Strahlung, von Schwarmintelligenzen und von der Erfahrung einer Berührung, als wäre alles das erste Mal. Die Stimme ist bearbeitet, nirgends so sehr wie brim Intro "Colourgrade", das in seiner Stimm-Manipulation Arca-Ausmaße der Entfremdung annimmt.

Und vielleicht ist das die Pointe, mit der ich gut leben könnte. Ein entfremdeter Protagonist lebt in seinem getakteten Leben, umgeben von Midi-Beats und Reverb, Loops in perfekter Symmetrie, technologisch akkurat und irgendwie hübsch in den digitalen Audiointerfaces aufgereiht. Aber die Geburt eines Kindes zwingt die Erzählerin, sich allem Absurden des Körperlichen, des fleischlichen Mensch-Seins neu gewahr zu werden. Das würde die zwischendurch analogen Samples, die manchmal experimentell aufleuchtenden Noise-Einschübe erklären. Das Album klingt definitiv wie ein Mensch in maschineller Ordnung, dessen klares System aufgebrochen wird. Die das Album abschließende Wiederholung "For that feeling / I am sinking" unterstreicht diesen Eindruck.

Aber was wäre dann mit dem verdammten Räuspern? Es ist mehr als das, es ist nur das emblematischste dieser extrem direkten DIY-Ästhetik, genau wie ein manchmal ein- und ausgepegeltes Mikrofon-Rauschen eine stoppende und startende Aufnahme signalisiert. Irgendetwas verwirrt die Pole, die Motive dieses Albums. Und ich kann wirklich nicht beschreiben, ob es das geplant oder ungeplant, effektiv oder störend, schön oder hässlich tut.

Vielleicht muss ich mich vor "Colourgrade" geschlagen geben. Selten habe ich ein so nacktes, bares Album gehört. Die Grundfeste seiner Produktionstechnik sind tief in die musikalische DNA gewebt. Es fühlt sich wie ein Arrangement an, das vor den eigenen Ohren in der Sekunde geknüpft und legiert wird. Ein bisschen wie abstrakte Kunst, die ein paar Gedanken und Motive preisgibt, genug, um den Betrachter im Museum fünf Minuten in die Leinwand versinken zu lassen.

Hört man dieses Album, rotiert man unterbewusst zwischen Nachdenken und Abschweifen. Vielleicht auch, weil es zwischendurch genuin sterbenslangweilig ist. Aber dann kommt doch wieder dieser Moment, der in den Sound zurückholt. Die Platte hängt indes in den eigenen Loops und in seiner fadenlosen Sound-Physik, als hätte es gar kein Interesse daran, einen Hörer in sich aufzunehmen. Ist das Kunst - oder kann das weg? Um ehrlich zu sein, ich bin überfragt. Aber vermelde gehorsamst, dass ich zumindest Spaß hatte, darüber nachzudenken.

Trackliste

  1. 1. Colourgrade
  2. 2. Tectonic
  3. 3. Hive Mind (feat. Coby Sey)
  4. 4. Recipe
  5. 5. Beating
  6. 6. Sleeping
  7. 7. Crepuscular Rays
  8. 8. Send Me
  9. 9. Sink In
  10. 10. Hips

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