laut.de-Kritik

Pettys Album für die Ewigkeit.

Review von

Als "Wildflowers" 1994 erschien, waren viele Reaktionen eher verhalten. "Der macht jetzt auf Bob Dylan", so eine verbreitete Meinung. Die nicht als Kompliment gemeint war, denn Dylan war zu diesem Zeitpunkt nur ein Schatten seiner selbst aus den 1960er und 1970er Jahren, seine "Wiederauferstehung" in Form des Albums "Time Out Of Mind" (1997) noch nicht absehbar. Folk und Rock waren in Zeiten von Britpop, Hip Hop, Grunge und Techno ziemlich out.

Mit "Greatest Hits" (1993) hatte der Musiker aus Florida den kommerziellen Höhenflug seines Schaffens erreicht. Bereits sein drittes Album "Damn The Torpedo" (1979) erreichte in den USA Platinum, wie auch sechs der folgenden sieben. Petty schien die Hits nur so aus dem Arm zu schütteln, ohne dabei auf Pop-Rock-Klischees zu achten, darunter die für die Best Of aufgenommene Single "Mary Jane's Last Dance". Seine Texte haben oft eine existentielle, melancholische Note, im Video spielte er einen Bestatter, der seine verstorbene Liebe zu Grabe trägt, interpretiert vom damaligen Sex-Symbol Kim Basinger.

Mit der Single begann Pettys Zusammenarbeit mit Produzent Rick Rubin. Der hatte zwar nicht gerade einen tadellosen Ruf, war zu diesem Zeitpunkt aber der richtige Mann. Denn Petty war nach all den Tourneen und Erfolgsalben ausgelaugt, seine Ehe mit Jane Benyo, die er 1974 geheiratet hatte, stand vor dem Ende. Rubin empfahl (oder eher befahl) ihm, sich in seinem Haus mit seinen Lieblingsplatten einzuschließen und zu "schreiben, schreiben, schreiben", wie Petty später berichtete. Über zwei Jahre kamen etwa 30 Tracks zusammen, die sie gemeinsam im Studio aufnahmen.

Wobei "gemeinsam" auch seine Stammband, die Heartbreakers, beinhaltete, selbst wenn das fertige Album dann als Solowerk Pettys erschien. Los geht es mit der titelgebenden, zärtlichen Folk-Ballade. "Ich habe einfach tief durchgeatmet und sie kam heraus. Das ganze Lied, Worte, Musik, Akkorde. Ich habe auf dem Recorder Play gedrückt und nicht mehr als dreieinhalb Minuten gebraucht. Tagelang habe ich das das Band immer wieder angehört, weil ich dachte, hier muss etwas nicht stimmen, es war zu einfach. Und dann wurde mir klar, dass hier wahrscheinlich überhaupt nichts falsch ist", so Petty. Recht hat er: "You belong among the wildflowers / You belong in a boat out at sea / Sail away, kill off the hours / You belong somewhere you feel free", so die ersten Zeilen eines seiner schönsten Lieder.

Dass das fertige Album schließlich "nur" 15 Stücke enthielt, war eine Entscheidung von Labelchef Lenny Waronker, der darauf bestand, ein Einzelalbum zu veröffentlichen. Rubin und Petty fügten sich, wenn auch zähneknirschend, und ließen die Idee eines Doppelalbums fallen. Vier Auszüge erschienen 1996 auf dem wenig bekannten Soundtrack "She's The One", ein weiterer mit dem anrüchigen Titel "Girl on LSD" als Single-B-Seite. "Leave Virgina Alone" leiteten sie an Rod Stewart weiter, der es 1995 für sein Werk "A Spanner In The Works" aufnahm. Der Rest verschwand in den Archiven.

Waronkers Entscheidung erwies sich als richtig, denn "Wildflowers" ist in seiner 1994 erschienenen Form ein durch und durch rundes Album. Das zweite Stück "You Don't Know How It Feels" klingt wesentlich rockiger als der Opener und enthält mit "Let's get to the point / let's roll another joint" einen von Pettys berühmtesten Reimen. Es war sein letzter Top 40-Hit in den USA und führte zu Kontroversen, viele Radio- und TV-Sender spielten eine Version, in der "roll" und "Joint" abgeändert oder nicht zu hören waren. Dabei handelt das Lied gerade vom Unbehagen Pettys, immer die Erwartungen erfüllen zu müssen und sich nicht ehrlich ausdrücken zu dürfen. Ein Konflikt, den die Zensur nur noch mehr betonte.

Verantwortung abzugeben ist auch das Thema von "Good To Be King", in dem sich Petty vorstellt, eine kurze Weile Macht auszuüben um sie dann wieder abzugeben. "It's time to move on, time to get going / What lies ahead, I have no way of knowing / But under my feet, baby, grass is growing / It's time to move on, it's time to get going" sinniert er davor in "Time To Move On", eine Fortsetzung seines Hits "Into The Great Wide Open".

Ein existentielles Album also, das auch lichte Momente hat. "Honey Bee" etwa, oder "Cabin Down Below", beide mit Rolling Stones-haften Riffs, in denen Petty sich als großer Aufreißer darstellt. Phantasien, mehr nicht, denn in Wirklichkeit sehnte er sich nach Geborgenheit und Liebe. Titel wie "Only a Broken Heart", "Don't Fade On Me", "Hard On Me" oder "Crawling Back To You" sprechen für sich. "In the middle of his life / Left his wife / And ran off to be bad / Boy, it was sad / … / And the days went by like paper in the wind / Everything changed, then changed again / It's hard to find a friend", singt er etwa in der Folk-Nummer "Hard To Find A Friend" mit Ringo Starr als Gastschlagzeuger.

Das Abwechseln von dreckigen Rocknummern und ruhigeren Momenten verleiht dem Album, unabhängig von den Texten, das bestimmte Etwas. Rubins zweiter großer Verdienst bestand darin, Pettys Musik zu entschlacken, gerade im Vergleich zum Studio-Vorgänger "Into The Great Wide Open" (1991), den Produzent Jeff Lynne arg glatt poliert hatte und der sich musikalisch klar Ende der 80er / Anfang der 90er einordnen lässt. "Wildflowers" dagegen besitzt jene zeitlose Qualität, die ganz besondere Platten auszeichnet.

Leider war "Wildflowers" für Petty nicht das Ende der persönlichen Talfahrt, sondern eher der Beginn. Die Scheidung von seiner Frau wurde 1996 besiegelt, der Schmerz dauerte aber an. Drei Jahre lang war Petty heroinabhängig, bevor er sich 1999 aufrappelte und wieder auf Tour ging. Danach veröffentlichte er zwar weiterhin Alben, auch durchaus brauchbare. Die Erfolge, die er bis 1994 gefeiert hatte, wiederholte er aber nicht mehr. Nicht mal mit "Echo" (1998), dem Abschluss seiner beruflichen Zusammenarbeit mit Rubin. Zwischendrin hatte der Produzent ihn und die Heartbreakers eingespannt, um mit Johnny Cash das Album "Unchained" einzuspielen, das zweite in Cashs (und Rubins) Reihe "American Recordings".

"Wildflowers" behielt für Petty einen besonderen Stellenwert. Vor seinem plötzlichen Tod 2017 berichtete er, an einer erweiterten Neuauflage zu arbeiten und eventuell sogar damit auf Tour zu gehen. Die Heartbreakers und Pettys Tochter Arie kümmerten sich dann um die Fertigstellung, die im Oktober 2020 in verschiedenen Formaten als "Wildflowers And All The Rest" erscheint.

Neben dem neu abgemischten Album enthält die Neuauflage auch Live-Versionen, aus verschiedenen Tourneen zusammengestückelt. Und zehn Lieder, die für die zweite CD geplant waren. Vor allem aber die Demo-Aufnahmen, die Petty bei sich erstellt hatte. Wie bei den Esher Demos der Beatles für das "White Album" ist es erstaunlich, wie nahe die Lieder den fertigen Versionen nahe kommen. Hörern, die "Wildflowers" mögen und kennen, wird dabei ganz warm ums Herz. Die eine oder andere Überraschung ist auch dabei. Der Titeltrack etwa klingt fast gleich wie die bekannte Version, die gesummte Bridge verwendeten Petty und Rubin im Studio dann aber für "Hard To Find A Friend".

Ein besonderer Auszug ist "There Goes Angela (Dream Away)", das Heartbreakers-Keyboarder Benmont Tench auf einem Tape entdeckte - fertig eingespielt mit allen Instrumenten. "Ich kann mich nicht erinnern, es jemals gehört zu haben", erzählt er in einem Interview. "Ich glaube, das ist ein Stück, bei dem ich gesagt hätte: 'Ach, komm schon. Lass uns das aussortieren'. Als es lief, war ich so begeistert. Aber ich war auch wütend: 'Was? Wir haben das nicht aufgenommen?' Als ich es zum ersten Mal hörte, war ich so glücklich, dass ich fast weinen musste". Oder, wie Pettys Tochter Arie zu Protokoll gibt: "Es hat etwas an sich, das dich wohl fühlen lässt. Als wärst du daheim".

Ein willkommener Anlass also, sich mit dem Album ausgiebig auseinander zu setzen. Zweieinhalb Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung ist Dylan der einzige Vertreter populärer Musik, der sich Nobelpreisträger schimpfen darf, und "Wildflowers" Pettys beliebteste Platte. The times they are a' changin'.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Wildflowers
  2. 2. You Don't Know How It Feels
  3. 3. Time To Move On
  4. 4. You Wreck Me
  5. 5. It's Good To Be King
  6. 6. Only A Broken Heart
  7. 7. Honey Bee
  8. 8. Don't Fade On Me
  9. 9. Hard On Me
  10. 10. Cabin Down Below
  11. 11. To Find A Friend
  12. 12. A Higher Place
  13. 13. House In The Woods
  14. 14. Crawling Back To You
  15. 15. Wake Up Time

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5 Kommentare

  • Vor 3 Jahren

    Hatte ich nicht auf dem Schirm und für einen kurzen Moment dachte ich als ich den Text noch nicht geöffnet hatte: "Scheiße, Petty hat ein neues Album nach versterben raus gebracht, Wunder geschehen." :P

    Is mir klar das die Vögel die das lesen, mir das entweder nicht glauben oder denken, was ein Spinner!

    Trotzdem (oder gerade deswegen) danke Giuliano Benassi für den tollen Text, desen Nick ich mal wieder vergessen habe. ;)

  • Vor 3 Jahren

    Als großer Fan der Alben zuvor habe ich das Album damals quasi blind gekauft, bin aber bis heute nie richtig warm geworden damit.

  • Vor 3 Jahren

    Gute Platte, aber ich halte "Into the Great Wide Open" immer noch für das bessere und "rundere" Album.

    Vielleicht bin ich auch nur etwas voreingenommen, da "All the wrong Reasons" mein absoluter Lieblingssong ist.^^

  • Vor 3 Jahren

    Das Album ist OK, leider sind die Vorgänger Great Wide Open und Full Moon Fever mit den besseren Songs bestückt- wenn auch der rauhere Sound auf Wildflowers und Echo besser zu seiner Musik passt. Echo enthält zudem das sehr relaxte Counting on you. Kurzum, Wildflowers: 3/5

  • Vor 3 Jahren

    Ich bin kein TP oder Heartbreakers Fan, kann mit beiden auch nicht so recht was anfangen, halte sie aber auch nicht für überschätzt. Doch auf diese Platte lasse ich nichts kommen. Kenne kaum ein runderes, stimmmigeres Album. Warum ich sie damals gekauft habe kann ich nicht mehr sagen, nur das ich es zu keiner Sekunde bereut habe. Läuft immer mal wieder.