laut.de-Kritik

Toxische Beziehungen und große Romantik

Review von

Die Musik von Tristan Brusch ist eine Form von Ausdauersport. Wie lange halten es geneigte Zuhörer*innen aus, den abgründigen Gedankengängen des Gelsenkircheners zuzuhören? Das kann manchmal große Kunst sein, aber wenn es schief läuft, dann entstehen aus dem Sezieren toxisch-fragiler Männlichkeit abstoßende Fragmente toxisch-fragiler Männlichkeit. Dieser Drahtseilakt ohne Sicherheitsnetz ist gleichzeitig auch eines der aktuell interessantesten Projekte im deutschen Pop. Brusch verflucht sich selbst, warnt Partner*innen vor sich selbst, singt mit unheimlicher Schönheit von verflossenen Beziehungen und etabliert sich so als einer der letzten großen Romantiker Deutschlands.

Als solcher muss für "Am Wahn" natürlich ein größtmöglich angelegtes Projekt her. Brusch widmet sich 38 Minuten lang der Dokumentation einer toxischen Beziehung, beschreibt ihre tiefsten Tiefen, aber auch die Fantasmen, die sich die zwei in der Beziehung entwerfen, für die sie auch bleiben. Dafür weitet er seinen charmant-ranzigen Chanson teilweise so weit aus, dass er mehr wie 70er Jahre Softrock klingt, an anderen Stellen verengt er sein musikalisches Spektrum so klaustrophobisch, dass man unweigerlich an Klemzer denken muss.

Doch bevor die Reise losgeht, warnt Brusch erstmal: Es ist "Wahnsinn Mich Zu Lieben" nennt er seinen Opener. Natürlich spricht er nicht selbst, sondern seine Charaktere, die beiden unglücklich an sich selbst gefesselten Protagonist*innen der Beziehung im Herzen von "Am Wahn". "Doch möchtest du mich lieben, musst du nur den Verstand verlieren / In ein tiefes Loch und durch ein weites Meer" fungiert hier wirklich als Warnsticker, die Vignetten der Beziehung, die Brusch über die nächsten zehn Songs entwirft, führen in tiefste Tiefen und Ozeane vergossener Tränen.

Dafür findet er wieder und wieder abseitig schöne Bilder, im bedrohlichen "Mirage" vergleicht er Gaslighting, also das systematische Anlügen der/des Partner*in mit dem Ziel, deren/dessen Realitätswahrnehmung zu untergraben, mit einem Zirkus. Hier gibt es "doppelte Böden", über die beide schweben. "Mirage, was du gesehen hast, war nicht da / was du gefühlt hast, war nicht da / was du geliebt hast, gar nicht wahr" schleudert Bruschs Erzähler seiner Partnerin ins Gesicht. Dabei verschluckt er das "-ge" bei Mirage nur so geschickt, dass aus der Zirkusillusion die direkte Anrede einer "Mira" wird. Dazu steigert sich der Song von seinen Anfängen als dunkel-schimmernder Chanson, hin zu einem frei drehenden Karussell aus Streichern, Akkordeon, sogar ein Saxofon gibt sich die Ehre.

Noch tiefer in die menschlichen Abarten wagt sich "Oh Lord". Brusch wählt hier ausnahmsweise mal nicht die Ich-Perspektive, sondern schaut als Erzähler auf sein abscheuliches Studienobjekt herab, im wahrsten Sinne des Wortes: "Ein Mann stürmt aus dem Laufhaus / er hat bezahlt, es stand ihm zu / loggt sich in sein Freierforumsprofil / und schreibt ne bissige Review" führt er das erste Objekt seiner Verachtung ein, bevor er weiterspringt zu Gap Year-Tourist*innen mit white savior complex und voller Weltschmerz lamentiert: "Zeig mir ein Mensch, dem ich verzeihen kann"

In der Beziehung im Herzen von "Am Wahn" findet er diesen Menschen auf jeden Fall nicht. Denn "Glücklich" ist so verdammt unheimlich. Wenn Bruschs Erzähler singt "Ich bin so gerne glücklich, am liebsten jeden Tag", zieht sich beim Zuhören der Magen zusammen, das Glück seines Erzählers scheint etwas zutiefst Sinistres zu sein, etwas Verbotenes, Widerwärtiges. Zumindest, wenn Brusch parallel davon erzählt, wie seine ehemalige Partnerin in einer neuen Beziehung ist und sein Erzähler ihr genau dieses Glück unablässig vorwirft. Bei wem sich dieses Gefühl seltsamerweise nicht einstellt, der muss nur einen Song warten.

Denn "Am Herz Vorbei" ist so widerwärtig, so moralisch falsch, ein Erzähler der dazu in der Lage ist, kann mit "glücklich" nur etwas moralisch Falsches bezeichnen. "Am Herz Vorbei" ist dabei der größte Drahtseilakt auf "Am Wahn". Brusch adaptiert "You Missed My Heart" von Mark Kozelek, dem seit zweieinhalb Jahren sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird. Dessen bester und gleichzeitig bestürzendster Song ist nun eben "You Missed My Heart", eine zutiefst dunkle Erzählung von männlicher Aggression, die im Tod des Erzählers endet, die zugleich fesselnd und wunderschön ist.

Brusch adaptiert diesen Song nun, übersetzt ihn also nicht Eins-zu-Eins, sondern überträgt die Bilder ins Deutsche und lässt ein ganz entscheidendes Detail weg: Der Erzähler stirbt nicht. Stattdessen endet der Song mit dem Tod der Frau, in einem wunderschönen, cineastischen Crescendo.

Versöhnlichere Töne stimmt Brusch dann ganz zum Schluss in "Für Theo" an. Ganz sanft geleitet seine Gitarre durch den Song, während Bruschs Stimme jegliche Boshaftigkeit verliert und stattdessen verschwörerisch säuselt: "Egal wer du bist / egal wer du wirst / ganz egal was ist / bleib ich für dich da". Das klingt so wunderschön tröstend und wärmend, das willkommene Gegengift zur halben Stunde davor. Eine zeitlose Hymne auf das bloße Sein, die radikale Akzeptanz und bedingungslose Liebe. Große Romantik!

Trackliste

  1. 1. Wahnsinn Mich Zu Lieben
  2. 2. Oh Lord
  3. 3. Kein Problem (feat. Annett Louisan)
  4. 4. Seifenblasen Platzen Nie
  5. 5. Mirage
  6. 6. Wieder Eine Nacht
  7. 7. Monster
  8. 8. Baggersee
  9. 9. Glücklich
  10. 10. Am Herz Vorbei
  11. 11. Für Theo

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4 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 11 Monaten

    Finds noch besser als "Am Rest". Das Feature mit Frau Louisan hat anfangs etwas gestört aber insgesamt ist es ein gutes Album.

  • Vor 11 Monaten

    Am Herz vorbei war in der Ursprungsfassung bei seinen Live-Auftritten noch 3-strophig.
    Das ist auch meine größte Kritik an dem Album. Ist man in einen Song gerade eingetaucht, ist er auch schon wieder vorbei. Natürlich ist es bewundernswert, 11 so wunderbar unterschiedliche, aber trotzdem tolle Melodien zu entwickeln. Allerdings ist das Album so eher ein Rausch als ein Fest. Jeder wertet das nun wie er mag.

    Brusch bleibt trotzdem die größte deutschsprachige Empfehlung der letzten Jahre.

  • Vor 11 Monaten

    Das Album ist klasse geworden. Für mich war das einzige Manko, dass einige Songs echt hätten länger sein können. Das ist tatsächlich eines der wenigen Male, wo ich das sage, weil normalerweise können viele Künstler gerne mal eine Strophe weniger für ihre Songs schreiben. Aber hier hatte ich das Gefühl, dass einiges noch nicht wirklich auserzählt ist.

    • Vor 11 Monaten

      +1
      Und ich möchte noch lobend hervorheben, wie schön die Songs instrumentiert sind. Weit über dem deutschen Singer-Songwriter-Standard hinaus. Finde die Texte allerdings nicht so edgy, wie die Review suggeriert.

  • Vor 10 Monaten

    Wieder sehr starkes Album. Die 4 von 5 geh ich mit, weil zum fünften nach meinem persönlichen Empfinden irgendwie noch ein Stand-Out-Titel fehlt. Kann aber noch kommen, "2006" vom Vorgänger hat sich auch erst nach und nach dazu gemausert. Kandidaten gäbs zB in "Baggersee" und "Am Herz Vorbei" ja durchaus. Dass Annett Louisan im Duett durchgehend "nur" seinen Part wiederholt, kratzt mich außerdem ein bisschen, weil es die Nummer devoter macht, als sie es dem Inhalt nach sein müsste. Ergibt, wenn man das Album wie die Rezi als Konzeptwerk um toxische (Männlichkeit in) Beziehung(en) begreift, andererseits vielleicht ja gerade Sinn.

    Die (also die Rezi) finde ich sowieso gelungen. Nur am Ende des zweiten Absatzes ist "KleZMer" gemeint, oder? Das habe ich jetzt ehrlich gesagt nicht so rausgehört, zumindest nicht im Sinne einer Beschränkung darauf.