laut.de-Kritik
Liebe, Rotwein und Psychopharmaka.
Review von Kay SchierLiebe macht keinen Spaß, aber zumindest Musik. Denn dieser überwältigende Zustand, wenn man sich krank und schwach und nicht als Herr seiner selbst fühlt, zieht sich mal verdeckt, mal offen als roter Faden durch die Soloalben von Tyler, The Creator. Deswegen ist es auch nicht weit hergeholt, dass er jetzt darüber ein ganzes Album gemacht hat: Über den sehr einsamen Teil dieses komischen Konzepts namens romantischer Zweisamkeit, die absolute Hilflosigkeit, wenn es nicht läuft wie geplant, also eher wie immer. Und was hat man am Ende daraus gelernt? Dass es so etwas wie Kontrolle nicht gibt. Nur um diese Erkenntnis brav zu verdrängen, sobald es wieder soweit ist. Wenn das bekannt vorkommt, liegt das daran, dass die allermeisten von uns irgendwann schon einmal ein bisschen "Igor" waren.
Die ganze Story streitet sich mit der glücklichen Variante um den Titel der durchgekautesten Thematik in der Geschichte der Popmusik. Dennoch bewahrt Tyler auch auf "Igor" seinen kreativen Biss. Tyler, The Creator schreibt die mit "Flower Boy" makellos kalligraphierte musikalische Handschrift fort und hebt sie gleichzeitig auf eine neue Ebene, denn auf "Igor" steht sie nicht nur einfach für sich selbst.
Die Vereinigung von wüsten Bässen, ganz viel souliger Wärme, psychedelischen Elementen und einem gleichberechtigten Nebeneinander von Gesang und Rap treibt Tyler als hochbegnadeter Arrangeur zu neuen Höhen und wertet sie dadurch nochmals auf, dass er mit ihr eine stringente Geschichte erzählt. So fokussiert wie hier klang er noch nie.
Seine vor Release auf Instagram freundlich, aber bestimmt formulierte Aufforderung, kein zweites "Flower Boy" zu erwarten und sich "Igor" in einer ruhigen Stunde ohne Ablenkung am Stück zu widmen, war inhaltlich jetzt auch kein völlig neuartiger Ansatz in Sachen Musikpromotion. Und der erste Hördurchlauf, selbstverständlich im Hintergrund, man lässt sich schließlich nichts vorschreiben, steht auch ganz im Zeichen davon, dass man unbewusst auf ein neues "911/ Mr. Lonely" oder "Who Dat Boy" wartet, wo keins ist, ergo: Das Album ist meh, nicht scheiße, aber auch quite underwhelming, wie man so schön sagt. Ein formloses, hitarmes Gedudel, auf dem für das Album eines Rappers erschreckend wenig gerappt wird.
Nimmt man sich aber Tylers Bitte zu herzen, fällt einem auf, dass er Recht hat. Um das Rolling Stone-Bullshit-Bingo weiterzuführen: Wir haben es hier mit einem Konzeptalbum und Grower in einem zu tun. Die Ästhetik von "Igor" geht von der Annahme aus, das man aktiv zuhört, am Besten allein und chronologisch am Stück. Dass man hier vergeblich auf Hits wartet, liegt daran, dass hier keine sein sollen, denn sie würden den Fluss der Erzählung des Albums unkontrollierbar ins Ungleichgewicht bringen. Eine solche Herangehensweise kann man im Zeitalter der Playlist schon mutig nennen.
Und natürlich wird hier gerappt, es steht nur bemerkenswert wenig im Vordergrund, sowohl im Verhältnis zu den Gesangsanteilen als auch im Soundbild insgesamt. Wenn man nur mit halbem Ohr zuhört, bekommt man wirklich zunächst nicht mit, dass da überhaupt Vocals sind, so sehr ist man darauf konditioniert, sie wie im Rampenlicht stehend zu hören. Auf "Igor" sind die Stimmen von Tyler und seinen zahlreichen Features gleichrangig gemischt mit den vielen ausgetüftelten Details der Instrumentals.
Anders gesagt: Kanye West in der Hook von "Puppet" fällt einem beim ersten Durchlauf genauso wenig auf wie die Beiträge von Leuten wie Solange, Santigold, Playboi Carti, Lil Uzi Vert oder Cee-Lo Green beziehungsweise Pharrell, die bei Gastauftritten in der Regel deutlich mehr Präsenz in der Musik zugestanden bekommen. Hier müssen sie sich alle der Partitur des Maestros unterordnen, dürfen kaum einmal ganze Parts performen, und dass sie nicht einmal in der Tracklist geführt werden, schwimmt in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie ebenfalls ziemlich gegen den Strom.
Inhaltlich hat Tyler den klassischen ersten Akt des Kennenlernens einfach weggelassen und steigt nach dem Intro mit den vollendeten Tatsachen ein: "You make my earth quake", die Synthies flirren wie besoffen durch die Gegend, alles fühlt sich leicht weggetreten und diffus an, muss wohl mal wieder Liebe sein. Von da aus geht es für Igor herzscheißtechnisch steil abwärts, hinein in die warmen Arme einer dysfunktionalen Beziehung ("wasted, boy, I need your attention / I'm off balance, I need some fixing / I'm your puppet, you are Jim Henson") , aus deren Umarmung er sich erst nicht lösen will und schließlich immer weniger kann ("Is it my free will or is it yours"). Denn am Ende ist es ein emotionales Machtgefälle und ein damit verbundener fortschreitender Verlust an Würde und Selbstachtung.
"But at some point you come to your senses": In "What's Good" kommt Igor auf einem ruppigen Oldschool-Beat kurz der alte Tyler zu Hilfe, um sich gerade zu machen: "Hard to believe in God when there ain't no mirrors around." Vor Wut schnauben, wenn durchatmen nicht mehr hilft, ist der erste Schritt, um den Kopf frei zu bekommen. Tatsächlich hat Igor aber die Kraft, den versöhnlichen Weg zu gehen: Auf "Gone Gone / Thank You" folgt ein nüchternes "I Don't Love You Anymore" und schließlich "Are We Still Friends?"
Lyrisch liefert Tyler die Ehrlichkeit und Direktheit, die nötig ist, und vermeidet den Schmalz und den Kitsch, der tödlich wäre für eine solche Geschichte. Ganz direkt, sozusagen interpretationsverschlossen, geht es hier um eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen zwei Männern. Im Umgang mit seiner eigenen Sexualität ist Tyler, The Creator einen weiten Weg gegangen für jemanden, dessen homophobe Ausbrüche einmal fester Bestandteil seiner Musik waren. Und das hat mit "Igor" zwar nichts direkt zu tun, gibt ihm aber noch eine ganze Schippe Schönheit mehr mit.
Musikalisch stehen die verspulten, warmen Instrumentals ganz im Dienst der Rotwein-und-Psychopharmaka-Stimmung, die das Album erzählen will. Was beim nebenbei Hören formlos erscheint, geht in Wahrheit sanft fließend ineinander über. "Igor" klingt ungemein aus einem Guss, hört man aber genauer hin, fallen einem die vielfältigen Referenzen auf, die Tyler bedient: Der erste Part von "I Think" ist eine ziemlich offensichtliche Hommage an "Stronger" samt clever, weil in einer ganz anderen Stimmung nachgebautem Beat. "New Magic Wand" klingt wie ein anerkennendes Nicken in Richtung des letzten Brockhampton-Albums, der erste Teil von "Gone Gone/ Thank You" ist Tyler, The Creators Version eines psychedelischen japanischen Popsongs. Das alles verbindet "Igor" mittels dichter, detailreicher Arrangements, die herzlich darauf pfeifen, inwieweit das noch wie ein Hip Hop-Beat klingt, aber sobald man hinter die Wall of Sound auf die drückenden, klaren Neptunes-Bässe hört, sind sie natürlich auch das.
Hier und da macht sich des Meisters große Liebe zur Arpeggiator-Funktion seines Keyboards etwas redundant bemerkbar, einzelne Parts rappt er eine Spur zu funktional herunter, und wirklich diskutabel ist Tylers exzessiver Einsatz von stark verfremdenden Effekten auf seinem normalerweise lakonisch grollenden Bariton, den man unter Tausenden wiedererkennt. Obwohl im Endeffekt Geschmackssache, ist es schade, ihn hier so wenig zu hören. Von dieser Kritik auf reichlich hohem Niveau abgesehen wird Tyler, The Creator mit "Igor" immer mehr zu einem von diesen Leute, von deren Musik man sich im Vorfeld sicher ist, dass da nur etwas Geiles kommen kann. Hier klingt er weit entfernt davon, als würden ihm in absehbarer Zukunft die Ideen ausgehen, darüber hinaus entwaffnend ehrlich, ausgeklügelt, gleichzeitig unverkopft, und vor allem bei allen Einflüssen in erster Linie wie Tyler, The Creator.
16 Kommentare mit 4 Antworten
Finde ich als Typ langweilig und die Mucke ist einfach nicht meins / dann lieber den adhs gestörten Hopsin der hat einfach mehr schwung
eröffne die diskussion mal mit einem ungehört 1/5, einfach weil das cover völlig beschissen ausieht.
Interessant .. wirklich!
das klar!
hab mich davor nie mit ihm auseinandergesetzt. jetzt zum ersten mal. hat mir sehr gefallen.
liess mich 2011 vom hype anstecken. 2015 mit cherry bomb hab ihn ihn verloren. Seit flower boy besser denn je. Krasse Platte, wieder.
guuuuuuute scheibe!
Nun sind doch 4 Monate vergangen, und dieses Album ist für mich bisher die Scheibe des Jahres. Ich war beim ersten Durchhören der Platte auch nicht nur begeistert, doch mittlerweile finde ich die Scheibe derart grossartig, dass ich sie fast noch höher als Flower Boy bewerten würde. Dafür gibt es mehrere Gründe, beispielsweise die unglaublich geilen Switches, welche, je mehr man sie hört, einfach bei jedem Mal hören wieder reinfetzen. Beispiele dafür wären I THINK, WHAT'S GOOD, NEW MAGIC WAND oder PUPPET. Dazu kommen teilweise einfach von Grund auf so geile Beats dazu, welche erst mit der Zeit ihre Wirkung komplett entfalten (RUNNING OUT OF TIME und A BOY IS A GUN wären da gute Beispiele). Einfach kranke Platte, welche jedoch zu Beginn nicht sehr zugänglich ist, mit der Zeit jedoch zu eine meiner Lieblingsplatten wurde. Damals 8/10, jetzt 10/10.