laut.de-Kritik

Einmal mehr ist alles ganz und gar anders.

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Fünf Jahre nach "No Line On The Horizon" veröffentlichen U2 mit "Songs Of Innocence" das 13. Album. Die Platte galoppiert zunächst digital und gratis in die Player dieser Welt. Ein physischer Körper folgt im Oktober. Schaut man dem geschenkten Gaul näher ins Maul, gibt es keine Enttäuschung. Viel Licht und ein wenig überflüssiger Schatten machen das Album zur interessantesten U2-Erfahrung seit vielen Jahren.

Einmal mehr ist alles ganz und gar andersartig bei der irischen Truppe. Natürlich durfte es keine routinierte Eigenkopie werden. Eine Rückkehr zu den Mitteln von "Achtung Baby" oder dem "Joshua Tree" wäre so fatal wie suizidal. Entsprechend unterschiedlich zum eigenen Backkatalog fallen Sound und Themen aus.

"Es sollte ein persönliches Album werden. Herausfinden, warum wir die Band machten, unsere Freundschaften, Lovers und Familien. Die gesamte Platte besteht aus ersten Reisen; geografisch, spirituell und sexuell", teilt Bono mit. So setzen sie alle Regler auf Anfang und liefern ein ebenso emotionales wie autobiografisches Kaleidoskop mit Schwerpunkt auf den Jahren der Jugend. Zurück zu den Wurzeln in elf Tracks. Und sie haben gute Storys zu erzählen.

Der Rückzug ins Private fängt schon beim Titel an, der nicht zufällig gewählt ist. U2 spielen auf William Blakes Gedichtband "Songs Of Innocence And Experience" (1789) an; eine inhaltlich zweigeteilte Textsammlung, die als Vorbild dient. Insofern scheinen diese Lieder der Unschuld lediglich die erste Hälfte des Konzepts zu sein. Für die Zukunft kündigt das Quartett bereits den Nachfolger "Songs Of Experience" an.

Auch musikalisch zollen sie von Dylan über Ramones/Clash bis hin zu Joy Division so manchem Weggefährten und Vorbild den verdienten Tribut. Doch schnöder Oldie-Salat wäre nicht das Ding der vier Iren. Stattdessen besinnen sie sich auf ihre Kernkompetenzen: Neugier, Experimentierfreude und das Einschmelzen musikalischer Traditionen und moderner Elemente zum typischen U2-Cocktail.

Brian Eno ist dieses Mal nicht mit von der Partie. Anscheinend braucht es eine ganze Produzenten-Armee, jenen Mann zu ersetzen, der an nahezu allen Glanztaten der Dubliner maßgebend beteiligt war. Danger Mouse, Paul Epworth, Ryan Tedder, Declan Gaffney und Flood (Nine Inch Nails "Pretty Hate Machine") basteln sich an seiner Stelle den Wolf. Nicht alle von Ihnen haben das Mysterium U2 gleichermaßen verstanden. Doch die Soundbrise ist weit überwiegend ein frischer Wind und kein öder Mief.

Ausgerechnet Tedder, der sonst auch kommerzielle Horrorprodukte à la Kelly Clarkson oder Jennifer Lopez mitgestaltet, reicht mitunter das Salz für die Suppe. Zwei Beispiele stechen ins Auge. Der Opener wandelt als Joey Ramone-Hommage auf der roten Linie zwischen angedeutetem Zitat und tanzbarem Clubrock. Mit "Every Breaking Wave" gelangt sogar ein Fan-Favorit der letzten Tour auf die Liste.

Der melodische Ohrenschmeichler "Song For Someone" bringt ihr Talent für Gassenhauer auf den sanften Punkt. Ein Lied, das im Stadion genau so funktionieren wird, wie in der intimen Stube zu zweit. Floods feines Händchen ist genau die richtige Wahl für so einen Kokon. Immerhin ist er auch zum dritten Mal an einer U2-Scheibe beteiligt.

"Volcano" kommt als schicker Bastard aus Pop und Postpunk um die Ecke. Wer beim letzten Album einen echten Ohrwurm vermisste, sollte ein Ohr riskieren. Der Song passt super in eine Tracklist mit frühen Kloppern der Sorte "I Will Follow" oder "11 O'Clock Tick Tock". So fröhlich das Stück klingt, so traurig und zornig gerät der Text, der den allzu frühen Tod von Bonos Mutter aufgreift.

Die intensivsten Augenblicke hält gleichwohl die zweite Hälfte der Scheibe inpetto. "Raised By Wolves" erzählt zu wölfischem Zähnefletschen und ästhetisch-sparsamem Gitarren-Arrangement den schlimmen Hergang eines Bombenattentats in Dublin, dem Bono nur deshalb entkam, weil er an jenem schwarzen Freitag nicht im angrenzenden Plattenladen stöberte, sondern sich in der Schule befand. Die Lyrics kulminieren in den wohl intensivsten Zeilen seit vielen Jahren. "Boy sees his father crushed under the weight/ Of a cross in a passion where the passion is hate."

Mit "Cedarwood Road" bekommt die seit Kindheitstagen andauernde Freundschaft zu den späteren Virgin Prunes Guggi Rowan und Gavin Friday ihre angemessene Huldigung. Nicht umsonst tauchen Bono und Edge auf so manchem Album dieses vielleicht größten irischen Musikers seiner Generation auf.

Den ultimativ irischen Nachtigall-Moment hält "Sleep Like A Baby Tonight" bereit. Wie ein Delfin treibt Bono durch die nachtblaue Strömung des Songs, dessen Dunkelheit im Sound das Meisterstück von Danger Mouse ist. Die hypnotische Atmosphäre speist sich zu gleichen Teilen aus der Finsternis und der anmutigen Melancholie ihres vielleicht besten Songs "Love Is Blindness". Mein absoluter Favorit auf der gesamten Platte und echter Anspieltipp für Nachteulen!

Die obligatorische Pop-Ballade für jede Zielgruppe kommt zum Ausklang mit "The Troubles". Als Duettpartnerin macht Lykke Li ihre Sache handwerklich gut. Ob ihre kalte Stimmlage im Gegensatz zu Bonos überbordender Wärme hingegen jedermanns Sache und die rechte Ergänzung ist, bleibt nach dem ersten Eindruck zumindest fraglich.

Doch U2 wären nicht U2, wenn es bei ihnen nicht auch was zu meckern gäbe. Ähnlich wie bei Neil Young fragt man sich mitunter, was so mancher Einfall soll. Einziger echter Fremdkörper und Tiefpunkt ist das schlimm oberflächlich klingende und an den Titten des amerikanischen Kommerz-Sounds nuckelnde "California (There Is No End to Love)". Der hier federführende Producer Declan Gaffney beraubt die Iren jeder Eigenständigkeit und klebt ihnen clownesken Tüdelkram an. Nicht schön.

Dennoch kann man sich insgesamt für das schicke und detailfreudige Geschenk bedanken. Niemand kann das Dynamit zwei Mal erfinden. Doch als Signal zum Aufbruch jenseits ausgelatschter Musikpfade sind diese "Songs Of Innocence" für U2 ein echter Bringer.

Trackliste

  1. 1. The Miracle (Of Joey Ramone)
  2. 2. Every Breaking Wave
  3. 3. California (There Is No End To Love)
  4. 4. Song For Someone
  5. 5. Iris (Hold Me Close)
  6. 6. Volcano
  7. 7. Raised By Wolves
  8. 8. Cedarwood Road
  9. 9. Sleep Like A Baby Tonight
  10. 10. This Is Where You Can Reach Me Now
  11. 11. The Troubles

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