laut.de-Kritik
Magnetisch saugender Deephouse mit Dudelsack und anderen Exoten.
Review von Philipp KauseAls Neneh Cherry 2019 durch Europa tourt, begleitet sie ein origineller Support-Act: eine junge Frau mit futuristischer elektronischer Bassmusik im Vorprogramm, die sich anhört, als vertone sie eine Schocktherapie mit Stromstößen. An jene Charlotte Adigéry war erst einmal schwer ranzukommen, ein Album steht bis heute aus. Sie ist Belgierin, mit karibischem Migrationshintergrund, und wie wir an der Compilation "Deewee: Foundations" sehen, auf dem Label Deewee gesignt. Diese Indie-Underground-Electro-Firma in Ghent geht auf den Familiennamen Dewaele zurück, feiert ihren sechsten Geburtstag und den 50. Release mit einem Label-Querschnitt. Die Brüder Dewaele sind die Chefs von Soulwax wie auch von Deewee und steuern selbst ein paar neue, richtig coole Tracks bei. Die meisten anderen Acts sind ziemliche Newcomer oder mindestens bei uns unbekannt.
Überwiegend treten die zahlreichen Künstler und Projektkollektive hier für gut konstruierte Beatmuster ein. Sie lassen satte Bässe krachen, vertrauen auf die Kraft klarer Melodie-Motive. Weit weg vom flächigen Geschwurbel heutiger House-, Ambient- und Bassmusik knüpft der Sound des Labels deutlich an Uralt-Acid-Techno der 80er an. Im Falle von "James Righton - Release Party" hat er auch etwas vom Drum Machine-Funk eines Prince. Auf einen Nenner lassen sich die verschiedenen Künstler*innen nicht bringen, Melodieseligkeit mögen die meisten.
Instrumental- wie Vokal-Tracks pflegen gleichermaßen hohes Niveau, lange Tracks schöpfen allesamt das Spannungspotenzial aus, für das Sieben-Minuten-Nummern Raum geben. Zu den paar gekürzten Edits auf der Doppel-LP sollte man die Extended Versions-Originale auf Soundcloud oder Bandcamp recherchieren und in Full Length nachhören.
Mit dem meditativen Highspeed-Geblubber der Gruppe Die Verboten auf "Aquarius" könnte man eine BR-'Space Night' unterlegen, aber auch auf einem sommerlichen Seeufer-Rave im Sand tanzen. Brüche mit Spoken Word fügen Kunst und Ohrenkitzel hinzu. Wasser ist auch das Thema, erzählen Die Verboten doch raunend die Story von Atlantis. Ein Schelm, wer ihnen unterstellt, dass sie ziemlich dreist Kraftwerk und die frühen Yello imitieren.
Soulwax' "Heaven Scent (feat. Chloë Sevigny)" integriert Spoken Word-Anteile, wie die meisten Beiträge hier, schön in den Flow der Beats. Soulwax als Labelgründer sind mit "Conditions Of A Shared Belief", "Close To Paradise" und "Essential Eleven" selbst vertreten. Auf Deewee finden sich jeweils mehrere Instrumental-, Spoken Word- und Vokal-Acts.
Mit Instrumentals aktiv sind der Four-to-the-floor-Act EMS Synthi 100, der Klangkunst-Techhouse von Future Sound Of Antwerp, Each Other mit einer Mini-Prise Stimme, Klanken in klassischem L.F.O.-Warp-Stil sowie Bolis Pupul, der DJ hinter Charlotte Adigéry mit verspultem Synth-Sound. Sein episches Zelebrieren seiner Melodie-Motive wirkt wie pralle DJ-Sets ("Wèi?", und das fantastische "Moon Theme").
Was die Spoken Word-Nische angeht, ergänzen Asa Moto mit good old Chicago Warehouse-Tech-Prägung ("Kifesh") und psychedelischem Afrofunk ("Wanowan Efem"), "Laila - The Other Me (Deeweedub)" mit zersetzten Stimm-Einsprengseln und Frickel-Clicks'n'Cuts-Noise auf einer zertrümmerten House-Konstruktion, Laima mit Spoken Word im Marie Davidson-Stil sowie die Sworn Virgins, deren Retro-Disco-Kracher "Fifty Dollar Bills" vor Soul trieft, unerbittlich zittert und ein sicheres Brett bei den Anspieltipps ist.
Gesanglich aktiv sind der relative Newcomer Movulango, Emmanuelle auf Italienisch, Extra Credit mit Stampf-Schlägen, sehr atmosphärisch auf "Drive Me" sowie Phillipi & Rodrigo, meist sparsam mit Gesang ("9000", "Paciencia"), mitunter mit mehr Stimme wie im portugiesischsprachigen "Retrogrado". Phillipis treibender, magnetisch saugender Deephouse am oberen Ende der BPM-Skala bindet Dudelsack-Samples und andere Exotismen ein.
Soulwax selbst liefern nicht nur schönen, ambientigen Untergrund für Poesie und angenehme Stimmen. Fantasievoll und exotisch zeigt sich der herausragendste Track der Doppelscheibe, "Close To Paradise", ein sehr langer Tune mit Wortschnippseln in kultig-schlechtem Englisch mit spanischem Akzent, cool auf den Rhythmus geschneidert und lautmalerisch zerhackstückt. Zwei seniorenhaft klingende Stimmen, ein Mann, eine Frau, künden vom Paradies und erzählen mit konfuser Intonation. Die beiden Brüder Dewaele und ihre Kumpels sind eine richtige Band, seit Ende der 90er aktiv.
Ihre interessanteste Entdeckung ist wohl Charlotte Adigéry, deren beiden Beiträge "Bear With Me (And I'll Stand Bare Before You)" und "Paténipat" den Sampler auf souliges wie auch afro-retro-futuristisches Level hieven.
"Patenipat ist ein Wortspiel und kommt von einem Sprichwort, das besagt, Waffen haben keine Hände, das ist bildlich gemeint und stammt aus der traditionellen Kultur der Karibikinsel Martinique. Wie auch der Rhythmus", plaudert Charlotte über ihr Lied, zu dem Bolis Pupul die Beats konstruierte.
"Sonoli-patenino-soleni-patenipat wenn ich das in dem Song so sage, spiele ich mit der Sprache im Gwoka-Rhythmus. Meine Mutter kommt aus Martinique, die Insel ist bis heute von Frankreich abhängig; man sagt sogar, die Insel sei ein Opfer des Post-Kolonialismus. In diesem Erbe fasziniert mich vor allem der Mix aus afrikanischen Wurzeln, karibischen Einflüssen und dem kolonialen Erbe Frankreichs. Auch auf der Nachbarinsel Guadeloupe hat die Sklaverei viel Schmerz verursacht und ebenso eine spannende Kultur kreiert. Für mich geht es dabei um die Rhythmen, mit denen sich die Sklaven während eines langen Arbeitstages auszudrücken versuchten. Die Tradition besteht weiter, mit Rhythmen wie Biguine und Belé. Selbst der Techno ist eine 'schwarze' Musik, und zumal ich in Belgien aufgewachsen bin, versuche ich eine Fusion zwischen meiner belgischen Musikszene und der Kultur meiner Mutter einzugehen."
Der Sampler "Foundations" webt einen spannenden Rhythmenteppich rundum dieses Feeling des Karibisch-Europäischen und zeigt zugleich, wie wenig es gelingt, dass etwa deutsche und belgische Musik sich mal berühren; Stromae ist nun eine Weile lang her. "Wenn ich Deutschland sehe, was ja auch reich an vielen Kulturen ist", überlegt Sängerin Adigéry, "dann denke ich mir immer, Deutschland ist von der Fläche her sehr groß, und ich habe den Eindruck, ihr seid autark in eurer Musik. Eine deutsche Band, wenn sie gut genug ist, bekommt genügend Gelegenheiten aufzutreten, dann reicht das schon. Von Belgien aus müssen wir uns um anderes Publikum im Ausland bemühen – wir sind so klein. Vielleicht mögt ihr auch unseren Musikstil nicht, der aber sehr gut ist? Tolles Argument, 'ne?! (lacht) Denn ich habe schon den Eindruck, dass es sehr schwierig für uns ist, unsere Musikstile mit euren zu teilen." Charlotte Adigéry hat Recht: Der Musikstil ist einfach sehr gut.
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