laut.de-Kritik
Flower Prog mit Paukenschlag.
Review von Yan VogelMikael Åkerfeldt und Devin Townsend zeugen ein Kind, lassen es von Steven Wilson und Tuomas Holopainen taufen und feiern ein rauschendes Fest mit orchestraler Opulenz, folkigem Feenzauber und einer gehörigen Schwarzwurzelbehandlung. So klingen Wilderun.
Die Prog-Bombast-Formation durchmisst spielerisch die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen und schaltet scheinbar mühelos zwischen den emotionalen Extremen. Die Platte klingt wie aus einem Guss, facettenreich, fordernd, fantastisch in Ton und Umsetzung. Ein "Epigone", so der Albumtitel und leitend für das textliche Konzept, beschreibt den Nachfolger großer Vorbilder. Dabei reihen sich die aus Boston stammende Band nur in die Riege der Prog-fanatischen Vorturner ein und hinterlassen bereits seit vier Alben eine eigene Duftmarke.
Die Band formiert sich am Beerkley College, der Ort, an dem etwa die Prog Metal-Institution Dream Theater aus der Taufe gehoben worden ist. Auch die Artrock-Gruppe Bent Knee lernt sich dort kennen. Auf diesem musikalisch fruchtbaren Boden entwickeln die Jungs von Wilderun ihre klangliche Vision.
Wie bei vielen Musikproduktionen spielte der Lockdown eine große Rolle. Wilderun sendeten in der kontaktarmen Zeit Lebenszeichen in Form von Split-Screen-Aufnahmen, u.a. interpretieren sie Iron Maidens-Epos "Seventh Son Of A Seventh Son" neu inklusive Orchester-Arrangement. Mittels dieser Fingerübungen tastete sich das Quartett an eigenes Material heran. Dabei weicht die Formation nur um Nuancen ab von ihrem Stil, der als Flower Prog mit Paukenschlag eine pointierte Beschreibung erhält. Die Produktion fällt wärmer, differenzierter und wo nötig opulenter aus als auf den Vorgängern.
Mit Blick auf das Songwriting spielen diverse Metal-Spielarten weiterhin eine große Rolle, sind jedoch mehr nur Teil des Ganzen und stehen gleichberechtigt neben Klassik- und Folk-Teilen. Im Songwriting findet vermehrt eine Abkehr vom Dur/Moll-Schematismus statt. Klassische Denke und Jazz-Komposition im Sinne des Einsatzes modaler Harmonien und Wendungen erhalten vermehrt Einzug in das musikalische Geschehen.
Epigone beginnt ähnlich wie Devin Townsends Opus "Synchestra" oder "Act IV: Rebirth in Reprise" von The Dear Hunter mit einer Ballade. Das verträumte und weitgehend akustisch gehaltene "Exhaler" verbreitet in viereinhalb Minuten eine märchenhafte Atmosphäre und zieht seinen Reiz aus der spärlichen Instrumentierung und der zarten Orchestrierung.
Die cinematografischen Soundlandschaften im neoklassischen Gewand sind fein und autark ausgearbeitet. Klar tönt die klassische Textur auch vereinzelt dominant, wenn wie in "Distraction" die Riffs unterfüttert werden. Das Faible für große Orchester-Produktionen unter Einsatz von Pauken und Blech wie bei Richard Wagner oder Gustav Mahler springt den Hörer förmlich an. Borknagar oder Ihsahn lassen grüßen. Doch in den meisten Fällen untermalen die Streich- und Holzinstrumente die emotionale Szenerie, dezent und doch eigenständig.
Auf betörende Melodien verzichtet die Band keineswegs, wobei die zugrundeliegende Stimmführung sowie die Akkorde einer modalen Denkart entspringen. Klingt trotzdem gut, spannend und nachhaltig, wobei man nicht auf die ein oder andere Folkweise verzichtet. Mit den breit gefächerten dynamischen Abstufungen spinnen Wilderun das musikalische Material sinnvoll weiter, ohne Part an Part zu klatschen.
Jens Bogren verbindet bei Wilderun die Durchschlagskraft, die er Arch Enemy verleiht, mit der dynamisch feinen Klinge einer Opeth-Produktion. Erwähnenswert auch Danieö Müllers Synthie-Soundscapes, die gerade im düster-dräuenden Sci Fi-Interlude "Ambition" für ein Alien-artiges Bauchgrummeln sorgen.
Die folgenden vier Longtracks fahren die bekannten Trademarks auf in verschiedenen Nuancen. "Woolgatherer" ist mit 15 Minuten ausufernd, fängt die Weite durch eine melancholische Grundstimmung wieder ein. Auf "Passenger" geben sich Wilderun Metal-affin, während "Identifier" stark auf die Entwicklung der Melodien setzt.
Alles gipfelt im abschließenden, vierteiligen "Distraction". Von der kompositorischen Machart gehen die Parts ineinander über, tragen jedoch ihre je eigene Handschrift. Der erste Teil ist eine getragene Hymne, die erst zum Ende in einem Death Metal- meets Walküre-Teil gipfelt. Den harten Faden greift der zweite Part auf, der rhythmisch dominant gestrickt ist und den Fokus auf Brachialität legt. Teil drei folgt der Doktrin eines gelungenen Soundtracks. Eine starke Melodie trifft auf eine dynamische Entwicklung. Das exquisite Solo am Ende steigert nochmal die Emphase. Im Abschluss "Distraction Nulla" zerstört die Band dieses Hochgefühl in einer knalligen Kakophonie.
Kein Stein bleibt auf dem anderen. Alles ist im Fluss. Ziel erreicht.
1 Kommentar
Die beiden Vorgänger sind riesig, bin sehr gespannt!