laut.de-Kritik

Radioheads Schatten auf der Musikindustrie: unbezwingbar groß.

Review von

Typisch Radiohead: Zuerst zwingen sie uns mit ihrer Spontaneität fast in die Knie, wenn wir zittrig das Erscheinungsdatum des neuesten Werks erfahren und erschrecken, dass das schon kommenden Samstag ist. Dann rauben sie uns den Atem, wenn sie es einfach einen Tag vorher veröffentlichen und dem Schreibpuls keine Ruhe geben. Eine Mitschrift:

"Bloom": Ein unkaputtbares Fragment, das sich dagegen sträubt, an den Ausgang des zielgeraden Vorgängers "In Rainbows" zu knüpfen. Gebaut auf doppeltem Boden, gepaart mit jazziger Verquertheit, der Alkoholdressing für den Kopfsalat. Wie "Kid A", nur noch mehrspuriger und flankenüberholender.

Morsezustände, die eine Anteilnahme erschweren, auch keine Gedanken an eine feste Zählzeit. Signalstörungen, wandernd durch alle Instrumentenlagen und ein erhabener Thom Yorke, der bekennend mit "Open your mouth wide / Universal sighs" hinter diesem sinistren Vorhaben steht.

"Morning Mr Magpie": Uptempo-Manie mit Verbrüderungsszenen der verlassenen Dubstep-Regionen Südlondons und den vorwärtstreibenden, abbrechenden Ergänzungen des Gitarren-Dreischritts von Jonny Greenwood, Ed O'Brien und Yorke. Colin Greenwood umspielt am Bass kontrapunktisch den vagen Schimmer, der ein verlässliches Pattern erhoffen lässt. "Good morning, Mr Magpie / How are we today? / Now you've stolen all the magic / Took my melody". Ein Regelwerk mit sichtlicher Unaufgeräumtheit und gleichlaufendem Pepp.

"Little By Little": Genrekollision der morgenländischen Notenskalen mit der chromatischen Modulation Arnold Schönbergs. Philip Selways Rasselkiste als Schlagwerk, das dem Deklinieren der Tonart-Vokabeln zur Seite steht. Und ein ablegendes Geständnis: "Little by little / By hook or by crook / I'm such a tease and you're such a flirt". Reim, Prosa, lose und zusammen, Verdichtungen und Wortverknappungen. Ein verdeckter Hinweis, dass es Kunstreligion als letzte Offenbarung des Glaubens geben kann.

"Feral": Zappelphilipp, Bach-Messe und ungestümes Titelgleichnis. Kollektiver Verlust oder ungleiche Einheit? Sicher ein Tanzdelirium wie beim hadersüchtigen Krumping-Dance. Ohne Worte.

"Lotus Flower": Thom Yorke, König der tanzenden Gliedmaßen. Eine Entscheidung für das Samstagsclubbing und das Nicht-zu-früh-nach-Hause-Gehen, um wirklich das letzte sphärische Luftstück aufzusaugen, dass es zwischen dem Tanzboden und den Resttanzenden noch gibt.

Im Videoclip eine phänomenologische Darstellung eines weiträumigen Helden, der trotz seines Platzanspruchs keine Gefahrenzonen anbietet: "I will sink and I will disappear / I will slip into the groove".

"Codex": "Sleight of hand / Jump off the end / Into a clear lake / No one around / Just dragonflies / Flying to the side / No one gets hurt". Fassadenlosigkeit ist so leicht ergründbar, wenn man versucht, sich selbst ins kalte Wasser zu werfen und reinzuwaschen. Diese Schönheit zu charakterisieren, heißt Daseinsfreude zu zeigen und sich selbstredend einzugestehen, dass genau dieses Lied kein Schluchzen mit Selbstschwund ist.

Vielmehr klingt diese argusäugische Beobachtung nach einer fallfreien Sicherheit in der Zukunft, in der Radiohead gebührend mit beiden Füßen stehen. Unverzichtbar: Jonny Greenwood sei bei dieser kompositorischen Messlatte aller Ehre nach die Würde honoris causa verliehen.

"Give Up The Ghost": "Don't haunt me / Don't hurt me (…) / I think I should give up the ghost". Game over - Quit. Der verlorene Abspann einer Videospielsequenz ist eigentlich der Startschuss für den Schulterschluss aller Dahinvegetetierenden zum Gegenentwurf. Sie schreien nach Zeter und Mordio und Yorke eilt flugs auf den Berg zur Messianisierung. Ätherische Loopabfolgen, klopfendes Mahagoniholz und Geisterchöre greifen um sich, aber vielleicht ist hier Yorke selbst der Getriebene?

"Separator" Zeit für Weingläser und Duftzüge. Nach der Epilepsie in den ersten Stücken steht die nachrauschende Entgiftungskur an. Hallende, kreisende Worte zieren das Gefühl einer zunehmend proportionaler werdenden Entspanntheit und die grazile Gelenkigkeit dieses freien Spiels beugt sich allen umtreibenden Mächten. Natürlich wären Radiohead kein (außer-)musikalisches Paradigma, wenn sie nicht mit juristischer Rücksichtslosigkeit handeln würden: "If you think this is over / Then you're wrong". Man möchte nicht glauben, dass es ein Finish markiert.

Vor der kolossalen Torpforte "The King Of Limbs" erscheint der Haupteingang zunächst zugestellt von einer forcierten und multiplen Angelegenheit mit Nebentüren, Korridoren und Fluren. Als Zufluchtsweg in diese scheinbar versperrte Traumfabrik bleibt dann ein kleiner Fingerspreiz und der Repeat-Button.

Und mit jedem Durchlauf wächst der tiefe Schatten, den Radiohead mit ihrer zeitdiagnostischen Qualität samt eigenbrötlerischen Veröffentlichungswillen auf die Musikindustrie geworfen haben, bis zur unbezwingbaren Größe heran. Für CD-Scheibenbekenner: "The King Of Limbs" erscheint am 25. März via XL/Beggars.

Trackliste

  1. 1. Bloom
  2. 2. Morning Mr Magpie
  3. 3. Little By Little
  4. 4. Feral
  5. 5. Lotus Flower
  6. 6. Codex
  7. 7. Give Up The Ghost
  8. 8. Separator

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LAUT.DE-PORTRÄT Radiohead

Ob es ein Freitag war, an dem sich Thom Yorke, Ed O'Brien, Phil Selway, Colin Greenwood und dessen Bruder Jonny zusammenfanden, um an der Abingdon Public …

60 Kommentare

  • Vor 13 Jahren

    "Wie Kid A"
    Sehr wahr.
    Ein grandioses Album!

  • Vor 13 Jahren

    Einen Tag nach der Veröffentlichung eines Radiohead-Albums es bewerten zu wollen, ist mutig. Daher ist es umso erfreulicher, dass das Review wirklich gut geworden ist.
    "Vor der kolossalen Torpforte "The King Of Limbs" erscheint der Haupteingang zunächst zugestellt von einer forcierten und multiplen Angelegenheit mit Nebentüren, Korridoren und Fluren. Als Zufluchtsweg in diese scheinbar versperrte Traumfabrik bleibt dann ein kleiner Fingerspreiz und der Repeat-Button. "
    Besser kann man es nicht beschreiben, dieses "WTF-war-das-ich-muss-es-noch-mal-hören"-Gefühl.

    Zum Album:
    Wer an Radiohead die Charakteristik liebt, dass sie sich stets auf jeder Platte neu erfinden, wird nicht enttäuscht. Breakbeat trifft auf komplexe Soundstrukturen und zeugen 8 Tracks, die einen erstmal sprachlos machen. Wenn man nach mehrmaligen Hören das Album 'begreift' im Sinne von 'jeden kleinen Sound nachvollziehen können', lernt man das Album wirklich zu schätzen.

    Bis jetzt mein Favorit in diesem spannenden Jahr.

  • Vor 13 Jahren

    Hypnotisierend. Verwirrend. Genial.

  • Vor 13 Jahren

    Hab das Album mittlerweile von ursprünglich hoffnungsvollen (und offensichtlich vorschnellen) vier Sternen über zwischenzeitliche "vielleicht kommts ja noch"-drei auf enttäuschte zwei runterschrauben müssen. Bedauernswert, aber es ist wohl die Radiohead-Platte der letzten fünfzehn Jahren mit der ich am wenigsten anfangen kann... So belangloses, undynamisches und monotones Klanggefrickel ohne Hochs und Tiefs wird halt auch mit der Unverkennbarkeit des Radiohead-Sounds nicht würziger. Schade!

    Übrigens: Die gratis nachgeschobenen Supercollider und The Butcher (die "nicht ins Albumkonzept gepasst hätten") gefallen mir besser als fast alle Stücke auf The King of Limbs. Man darf also immerhin optimistisch bleiben für den nächsten Streich...

  • Vor 13 Jahren

    Wirklich bemerkenswerte Kritik: wie man in so vielen Zeilen so wenig zur Musik schreiben und keinerlei Einordnung des Albums im Gesamt-Werk vornehmen. Aber soviel pseudointellektuelles geschwafel haben Radiohead nicht verdient.

    Ein vielschichtiges Album, aber ich finde das Radiohead ihre Qualitäten vor allem haben, wenn sie "klarer" sind, ein eindeutigeres Songwriting erreichen. Daher fand ich "in Rainbows" besser ? ich würde sagen, das Beste Album seid "Ok Computer".

  • Vor 13 Jahren

    Das Album ist jetzt schon ein paar Monate alt und jetzt bin ich der Meinung mal wirklich etwas dazu sagen zu können.
    Also "Bloom" ist schonmal einer der besten Radioheadsongs. Vielleicht der Beste seit "Pyramid Song". Die Bläser im Mittelteil sind klasse arrangiert und allein dafür müsste der Song schon die volle Punktzahl bekommen. Der Song erzeugt eine dichte naturverbundene Atmospähre, die sich durch das ganze Album zieht. Jeder Song ist mit kleinen Sounddetails vollgestopft. Songwritingtechnisch experimentiert Radiohead etwas mit Klimaxen. "Give Up The Ghost", "Little By Little". Irgendwie hab ich das Gefühl, dass das bei "Little By Little" nicht wirklich funktioniert und da viel zu viele kleine Sounds sind und der Song einfach aufhört.
    Zum Schluss kommt noch mal ein Highlight "Separator". Mit Bloom der stärkste Song. Dieser Song besteht wie alle Songs aus einem Drumloop, der hier aber sehr gut geglückt ist und das Songwriting hier ist einfach klasse.
    Fazit: Zwei Songs, die besser sein können als jeder Song, der letzten beiden Alben, dafür ist der Rest nicht immer gut durchdacht und manchmal hab ich das Gefühl, dass man durch Soundspielereien versucht schwaches Songwriting zu überdecken. Eigentlich hab ich das Gefühl nur bei "Little By Little" und "Feral". Wobei ich die beiden Songs doch noch recht gut finde. Denn hier sind die Sound ziemlich gut geglückt. Etwas schwächer als "In Rainbows" (5/5). Das Album bekommt von mir 4.5/5. Die 0.5 Punkte gibt es noch, weil das Album als ganzes wieder mal so gut funktioniert wie z.B. Kid A.