laut.de-Kritik
Liebe auf den ersten Klick.
Review von Philipp KauseRobbie Williams, ein Kirchenchor, ein Schmachtfetzen, Ironie, Selbstironie, subtile Hörspiel-Momente, Action, Party und die Aufforderung, diese Platte physisch zu kaufen: All diese Bestandteile finden sich auf dem Hip Hop-Album "The Vandalist" von Noga Erez. Hip Hop? Noga? For real?! Singen, sprechen oder rappen, so klar ließ sich das auf den ersten beiden Alben schon nicht auseinander halten. Jetzt kommen als Ausdrucksformen Grölen, Schreien, Rufen und hymnisches Dahinschmelzen hinzu.
Die israelische Vandalin demoliert sämtliche Genre-Schubladen bereits im ersten Track. Vollumfänglich beschreiben lässt sich dieses Album höcshstens mit mehr Genre-Begriffen, als Tracks drauf sind, von A wie Alternative-R'n'B und Avantgarde, über B wie Baile-Funk, Bhangra und Bubblegum, C wie Club-Ästhetik, D wie Dance, E wie Expressionismus-Pop, andererseits Easy-Listening, F wie Funk-Rhythm'n'Roll, Groove-House, Hyper-Pop und so fort bis zu Power-Rap, Synthie, Trip Hop und schließlich Y2K-Beats Marke Timbaland verziert mit zappa'esken Momenten.
Kurz: Das Album strotzt vor Kraft und quirligen Sprüngen zwischen Parallelwelten. Vom Argentinier Dillom Masa, 23, hat man bislang kaum Notiz genommen, dabei war sein Album "Post Mortem" mit Skelett, Gespenst, Höhlenmensch und Marsmännchen auf dem Cover optisch auffällig. Lyrisch auch. Es brachte ihm die Zuordnung Horrorcore ein. Mit Noga verbindet ihn wohl die 'attitude': Er will, dass Musik verstört und für Reibung sorgt - sonst könnte man sie bleiben lassen.
Während gerade Trap oft die Zeitgeist imitierenden Phrasendrescher anzieht wie das Licht die Motten und zur Formel verkommt, ist es auf "The Vandalist" umgekehrt: Vorfahrt hat der Inhalt, und der ist reichhaltig. Die Form folgt automatisch. So verstehen sie einander in "Ayayay ft. Dillom", der Latin-Stylecrasher und die subversive Noga, sie wollen gemeinsam vorschnelle Zuordnungen aufbrechen. "The Vandalist" kämpft gegen die Unlust, den eigenen kritischen Verstand einzuschalten, gegen vorgestanzte Denk- und Diffamier-Schemata. Und steht für die Freude am Provozieren, Insistieren, Ausprobieren.
Die 34-Jährige schiebt uns enorm viel Input ins Kurzzeitgedächtnis, komprimiert in kompakten Nummern. Schon nach zehn Minuten fühlt man sich gesättigt wie nach einem üppigen Mahl mit viel Zucker (hier: tollen Melodie-Loops), Fetten (hier: Bubble-Bounce-Beats), kräftigenden Proteinen (hier: einer super Album-Struktur), Salat und Ballaststoffen (hier: Wortspielen, Text-Snippets und humorvollen Effekten).
Gerade Humor durchflutet die Platte und macht sie so eigenwillig. Ob sie einem gefällt, hängt mutmaßlich davon ab, wie einem die Mischung aus absurdem Humor, subtiler Ironie, sexuellen Anspielungen und kindlich-spielerischer Freude am Herumprobieren mit Lauten und Klangerzeugung taugen. Auch die Videos gehen damit einher, zum Beispiel der Split Screen-Clip mit Flyana Boss ("Sad Generation, Happy People ft. Flyana Boss"). Für meine Bestenliste der Alben 2024 qualifizierte sich "The Vandalist" schon nach dem ersten Hördurchlauf, es war Liebe auf den ersten Klick.
8 Kommentare
Ein wirklich sehr gutes Pop-Album! Schön, dass es hier noch rezensiert wird.
Klingt sehr spannend, werd ich mir noch genauer anhören. Die Review hab ich auch sehr gern gelesen.
Gute review. Habe ich mir 10 mal durchgelesen. Toller Ebayer, gutes Wetter. Werde jetzt einen Kuchen backen!
Musikalisch und von ihrer Performance her macht es mir auch sehr viel Spaß. Aber entweder die Texte oder ich sind zu doof füreinander; kann beides sein.
Bissl cringe mittlerweile, die ganze Girlboss/Zuckerpüppchen-Nummer. Für jene Verhältnisse isses aber gut.
Und jetzt sofort alle ab in den Laden und die alten Alben von ihr kaufen