Casting und Straßenmusik mal anders: Gestern Abend startete auf VOX ein neues Musikformat.

Leipzig, Hbf (phk) - Die Idee nötigt durchaus Anerkennung ab: Ein bisschen wirkt es, als würde man Menschen, die ansonsten nur unter der Dusche trällern, beim Singen entdecken. Hier dreht sich aber alles ums Piano. Die Talentscouts heißen Igor Levit und Mark Forster, die neue Show, die gestern Abend auf VOX Premiere feierte, trägt den simplen Titel "The Piano".

Von Kind bis Greis, von Instrumental bis Vocal

Das Setting: Ein glänzend schwarzes Modell der Marke Steinway thront in einer Bahnhofshalle. Hobby-Musiker:innen und das ein oder andere, unbekannte Profitalent erscheinen vor der Kamera und zeigen vor Laufpublikum, was sie an den Tasten können. Manche singen dazu, manche nicht. Manche besser, manche schlechter, doch darauf kommt es nicht an, sondern nur darauf, wie sie in die Tasten greifen.

Die Teilnehmer:innen: Musikalische Vorgaben gibt es keine, auch keine Altersbegrenzung. So werden kommende Woche ein Kind und eine 96-Jährige zu sehen sein. Eine Sequenz dauert keine fünf Minuten: Jedes Talent stellt sich kurz vor, manchmal gibt noch jemand aus Familie oder Bekanntenkreis seinen Senf dazu. Geklärt wird: Wie kam die jeweilige Person zum Klavierspielen? Hat sie eines daheim stehen, und was macht sie sonst so? Es folgt die kurze Performance eines selbst gewählten Stücks. Dann Applaus und Blicke in strahlend gerührte Gesichter.

Reality-TV mit viel Reality und wenig Script

VOX, der Sender mit dem sehr hohen Reality-TV-Anteil, glückt ein lebensnahes Format mit niedrigem Anteil an 'Scripted Reality', geringer Beeinflussung durch Beobachtung oder gar Wettbewerb. Ja, es gibt die Kameras und RTL-Frühstücks-Moderatorin Annika Lau. Dass diese Show am Rande auch ein Casting ist, erfahren alle erst nach ihren Auftritten. Eine direkte Konfrontation der einzelnen Beteiligten gibt es nicht, nur ein allgemeines Gruppen-Feedback. Auch das TV-Publikum zuhause erfährt nur im Ansatz, was Mark und Igor von Deutschlands Piano-Underground wirklich halten.

Der Ort: Beide sitzen in der ersten "The Piano"-Folge in einem Verwaltungsraum des Leipziger Hauptbahnhofs zwischen Aktenordnern und schauen aus dem dritten Stock auf eine Plattform in der Einkaufspassage der Bahnhofsgalerie. Den Sound hören sie über versteckte Mikrofone. "In Bahnhöfen gibts viele Zimmer, die leer stehen", erklärte Mark kürzlich in der NDR-"Talkshow". "Die sind aber alle nicht besonders schön. In so einem waren wir dann halt immer drin."

Beide schreiben in Notizbüchern mit, aber im Gegensatz zu anderen Casting-Formaten wird niemand niedergemacht. Sie finden sowieso alle Kandidat:innen mehr oder minder toll. Die Person aber, auf die sie sich am Ende der Folge einigen, kommt sozusagen eine Runde weiter. Konkret: Sie nimmt an einem Konzert teil, bei dem Mark zu Igors Klavierspiel singt.

Noch nie eine Klavierstunde und keine verletzenden Kommentare

Die Sendung lebt maßgeblich von den Charakteren am Piano und ihren verschiedenen Zugängen zu Musik. Damit bietet sie einen pädagogischen Mehrwert. Sie fungiert wie eine Sportsendung, die zum Sport motivieren soll, bleibt sie doch auf Augenhöhe mit den Zuschauer:innen. Jede:r könnte hier mitmachen. Es gibt keine tagelangen Dreharbeiten, keine Staffeln, keine verletzenden Jury-Kommentare. Es warten keine Plattenverträge, es gibt keinen Druck.

Aber man hat die Möglichkeit, Straßenmusik zu machen - vor einem potenziell riesigen Publikum. Der Sendeplatz, Dienstag um 20:15 Uhr, weist in einer Jahreszeit mit freundlicherem Wetter plus/minus eine Million eingeschaltete TV-Geräten aus (zumindest bei "Sing meinen Song - Das Tauschkonzert".

"Ich hab' in meinem ganzen Leben eine einzige Klavierstunde gehabt", bekundet die 25-jährige Sandra aus München Die schwarz-weißen Tasten zogen sie damals geradezu magnetisch an. Im Kontrast zur Autodidaktin gibt es auch den Berufs-Singer/Songwriter, der am Piano komponiert.

Einer gewinnt - eine andere bleibt im Gedächtnis

Die Show wirkt recht inklusiv und reicht vom blinden Klavierspieler bis zum Flüchtling, der Mark und Igor letztlich am meisten fesselt und die Einladung auf ihre Bühne erhält.


Auffallend viele Frauen nehmen teil, was in der realen Musikindustrie ansonsten weniger abgebildet ist. Insgesamt wirken die Teilnehmer:innen wie eine Art Querschnitt der Bevölkerung, auch, wenn vereinzelt eine esoterische Beziehung zum Instrument durchscheint. Etwa bei Rashida, die mit riesigen Ohrringen auftritt, das Klavier auseinander baut und es mit ausladenden Bewegungen in Ganzkörpereinsatz beim Spielen massiert und streichelt.

Ein Leben ohne Klavier? Unmöglich

Manche spielen aus Spaß, manche, weil sie ohne Klavier nicht leben können. Einer sogar, weil ihn das Klavier von Drogen und Alkohol fernhielt. Eine andere stürzt sich auf die 88 Tasten, obwohl das Karpaltunnel-Syndrom ihre Handgelenke schon äußerst schmerzhaft für Monate blockierte, weil sie zu viel geübt hatte.

Zum Vortrag gehören eigene Kompositionen, Improvisationen und auch Chopins "Nocturne", bei dem Levit aufgrund des Schwierigkeitsgrads einst selbst "eine Blockade" erlebte. Am meisten bleibt aber Journeys "Don't Stop Believin'" haften:. Maria, 25, Maschinenbau-Studentin aus Windshausen an der Rhön, performt den Rock-Klassiker über "the smell of wine and cheap perfume".

"Jeder kommt aus seiner eigenen Ecke des Universums", fühlt Forster, "jeder erzählt seine eigene Geschichte", fällt Levit auf. Er ist der Typ, der sowieso immer auf der richtigen Seite zu stehen scheint. Er weist eine atemberaubende akademische Laufbahn vor und geht auch als politischer Aktivist an Grenzen, einer, der sich gegen Rassismus und Antisemitismus engagiert und zur Stelle ist, um ein Waldstück vor der Rodung zu retten. Levit trat schon für Greenpeace und für Fridays For Future auf, er wurde in Rekordzeit Professor für Klavier an einer Hochschule, und kennt all die großen deutschen und österreichischen Bühnen der 'ernsten' Klassik, wo er teils standing ovations erntete.

Guter Spannungsbogen, andere Ästhetik

Diesen ganzen Ballast lässt Levit in "The Piano" hinter sich. Zumal das Konzept einfach und entschlackt ist. An den fortwährend gleichen Klamotten der beiden Protagonisten sowie der Moderatorin lässt sich ablesen, dass nur ein einziger Drehtag gebraucht wurde. Auch beim Zusammenschnitt fehlt der übliche Vibe des Reality-TV-Brimboriums: Wird ein Kommentar im Bahnhofsbüro mal von einem störenden Hustenanfall unterbrochen, bleibt der einfach drin. Reißerische oder betuliche Hintergrundmusik oder gar eine Off-Stimme fehlen komplett.

Auch Nahaufnahmen bleiben weitgehend aus. Einblendungen am unteren Bildrand, die so genannten Bauchbinden, tauchen selten und nur kurz auf - ab und an ein Vorname samt Altersangabe. Die Stimmung im Bahnhof steht im Mittelpunkt, die Musik, der Klang - und nicht das Bild. Cliffhanger fehlen ebenfalls, und trotzdem baut sich alle paar Minuten ein neuer Spannungsbogen auf: Wer als nächstes und wie auftritt, das alleine sorgt für Neugier.

Durch das ruhige und geordnete Format vor lichtdurchfluteter Kulisse entsteht eine angenehme Atmosphäre. Das Ganze läuft recht zügig ab, nie aufgebläht, in der Kürze liegt die Würze, in der Ruhe die Kraft. Keine unnötigen Längen, es wird auch nicht ständig geplappert. Und die Zuschauer:innen bekommen genügend Raum, ein eigenes Urteil zu fällen - eine fast schon erfrischend neue Erzähltechnik.

Wieso hat es so eine Show noch nie gegeben?

Nachdem die Härte von Formaten mit Dieter Bohlen und Heidi Klum oder die mitunter fiesen Abservier-Szenen in Flirt-Shows ihren Teil zur gesellschaftlichen Verrohung in den vergangenen 25 Jahren beigetragen haben, wirkt "The Piano" fast wie eine Entschuldigung der Docutainment-Branche für all die Entgleisungen. Ein wertschätzendes, konstruktives Konzept, frei nach dem olympischen Motto "Dabei sein ist alles". Man kann sich angesichts der einzelnen, kurzen Auftritte zwar sagen: So what!? Doch ebensogut feststellen: Wieso hat es so eine Show eigentlich noch nie im Musik-TV gegeben?

Einfach nur "schön" ...

Wer einfach Musik mag und sich berieseln und überraschen lassen will, den entertaint "The Piano" gut. So beiläufig und präsent zugleich war seit "Heart Attack" mit Franklin und Blümchen (RTL II, 1995 bis 1997) wohl keine Sendung im Privatfernsehen mehr. Dafür adaptierte VOX eine Idee, die bereits in England, Dänemark, Holland und Spanien auf andere Weise umgesetzt wurde. Selten erlebte man zudem Forster so zurückhaltend. Oft findet er die Darbietungen einfach nur "schön. Es geht einzig um Musik, auf formatübliche Klugscheißerei, Geschleime, Gefühligkeit oder Peinlichkeiten wartet man zum Glück vergebens.

Levit und Forster kannten sich übrigens vorher nicht persönlich. Mark genoss in seiner Kindheit zwar Klavierunterricht, traut sich auf diesem Terrain aber wenig zu. Er sei für die Sendereihe angefragt worden, nach längerem Nachdenken sei ihm Igor eingefallen. "Es war jetzt nicht so, dass ich den jetzt einfach hätte anrufen können", so der Sänger im NDR. "Ich hab dann einfach zu 'Herrn VOX' gesagt: Entweder mit Igor oder gar nicht." Wie Igor in Schönebergers Talkshow erzählt, "haben wir uns einen Coffee to go geholt, und daraus wurde dann ein (...) vierstündiger Spaziergang."

Fünf weitere Folgen stehen auf dem Programm

Die zweite der insgesamt sechs Folgen wurde in Berlin gedreht und wird am 1. Oktober ab 20:15 Uhr ausgestrahlt. Alle sechs sind schon seit dem Frühjahr im Kasten, weitere wurden etwa in Karlsruhe oder Münster gedereht. Und das Konzert aller Gewinner:innen gemeinsam mit Forster und Levit ging ganz unauffällig schon im Juli in der Wuppertaler Stadthalle über die Bühne.

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4 Kommentare mit 5 Antworten

  • Vor einem Monat

    Oh ja, wholesome entertainment vom Springerverein, auf Augenhöhe mit den Konsumenten. :rolleyes: Undankend abgelehnt...

    • Vor einem Monat

      Für einen Sender, der seine Zuschauer normalerweise über „First Dates“ oder irgendwelche Kochshows abholt, dann doch eher anspruchsvolles Entertainment. Und nicht gebührenfinanziert.

    • Vor einem Monat

      anfang der 00er jahre liefen auf montags nachts auf vox immer geile animes oder japanische gangsterfilme. das war schon geil. da habe ich erstmals shark skin man and peach hip girls sehen können und war sofort verliebt

    • Vor einem Monat

      @Marc:

      Der Springerkonzern predigt durch seine rechte Hand Mark Wasweißich, seines Zeichens austauschbarster Popmusiker, den Wert von Individualität und Spontaneität am Instrument. Hohler kann man eigentlich nicht lachen.

      Dass das Konzept nicht recht aufgeht, zeigt ja schon die Rezi. Da wird dann als subjektiver Höhepunkt ne Fassung don't stop believing gewählt. :conk: Dazu hat sich die ganze Leidenschaft am Piano also summiert...ne tränendrückende, totgenudelte Schmachtpopnummer. Pfui!

      Und klar, es geht ja gar nicht um Wettbewerb, das haben die Performer gewiss auch nie erwartet. Die dachten sich gewiss gar nichts dabei, dass da ein 25000 € Steinway Upright einfach so in der Gegend rumsteht. :rolleyes:

      Dass das Konzept offenbar reduziert und affektarm gefilmt und geschnitten wurde, ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Hätte man den Forster und das Talentscoutanhängsel über Bord geworfen, hätte man vielleicht ein "authentisches" Format schaffen können. Die Pointe finde ich übrigens besonders witzig: Die "Gewinner" des Formats dürfen dann für den Forster live spielen. Zynischer geht's eigentlich gar nicht mehr...

  • Vor einem Monat

    ich hoffe, die sendung wird ein erfolg

    tja... igor levit hat seite an seite mit #BLM demonstriert und sich gerade gemacht gegen alle arten von nazis und rechten und ist nun von 80% seiner peergroup verraten worden wegen dem israel-palestina krieges. so sehr, dass er twitter/X verlassen musste.
    das macht sehr gut deutlich, was ich für ihn empfinde.... nämlich innige liebe.

  • Vor einem Monat

    Ab Mark Forster habe ich aufgehört zu lesen

  • Vor einem Monat

    Ich muss ganz kurz mal mit einer Lanze für Mark Forster erbrechen:

    Letztens habe ich Mark Forsters "194 Länder" gehört.
    Hierbei ist mir aufgefallen, durch welch ein lyrisches Labyrinth man sich hier bewegen muss. Viele denken ja, die 194 Länder stehen entweder für eine ungezähmte Reiselust bzw. die Lust auf das Neue, die Neugier, die ja auch ein Teil von uns Menschen ist und immer auch als ein (Teil-)Aspekt einer höheren, individuellen Intelligenz gilt(Stichwort: IQ) oder aber für die 194 unterschiedlichen Menschen/Persönlichkeiten, die man treffen kann und die einen bereichern.

    Ich hingegen bin der Ansicht, dass es sich hier um eine Reise "zu sich selbst" handelt - also, die "194 Länder" stehen für die unterschiedlichen Facetten der eigenen Persönlichkeit und das aktiven Auseinandersetzten mit dieser.
    Das von Forster angesprochene "Baby" sowie "dich" etc.,
    ist eigentlich immer er selbst, in einer Art Selbstgespräch zu seinem Ich und die "Welt voll Abenteuer" eine, die sich innerhalb der eigenen, (noch) brüchigen Identität abspielt inklusive des dazugehörigen Kampfes, diese (Identität) anzunehmen oder überhaupt erst definieren zu können.

    Finde es immer interessant, wenn die psychologischen Themen auch eine gewisse Rolle spielen.

    Kurz noch:
    Es soll im übrigen Aufnahmen davon geben, die zeigen, wie es sich anfühlt, wenn sich die Abenteuer überwiegend im eigenen "Ich" abspielen.

    Dort soll u.a. zu sehen sein, wie ein rätselhaftes, fast schon skurril anmutendes Wesen, das im Kornfeld (Es hat sich so oder so ähnlich vermutlich im Süden Deutschlands, wohl in der Nähe von Ludwigsburg, irgendwann in den 90er Jahren zugetragen) durch mystische Gestikulation auffällt, singt,
    wie plötzlich "alles Möglich" ist, bspw. auch Drachen oder ähnliches.
    Hier sieht man dann aber auch, dass physische Konzepte wie "Länder" total übergangen werden und die Meta-Ebene
    gänzlich obsiegt.