laut.de-Kritik
Melancholische Tagträume zwischen Slowdive und The XX.
Review von Manuel BergerZu Berlin fällt einem vieles ein, gewiss aber nicht 'Entschleunigung'. Ob das die Urheber von "Sweet Harm" bedachten, als sie sich Berlin Syndrome tauften und begannen, träumerische Low-Tempo-Musik zu schreiben? Vielleicht soll es ja der Soundtrack für gestresste Hauptstädter sein, damit sie morgens nicht durchdrehen, wenn sich die Türen einer überfüllten U-Bahn direkt vor ihrer Nase schließt. Mit den Klängen von "Sweet Harm" im Ohr jedenfalls sinkt die Wahrscheinlichkeit beträchtlich.
Frühe Coldplay, Slowdive, Cigarettes After Sex und The XX kommen beim Hören der elf Songs in den Sinn. Durch "Convoluted" zieht sich friedliches Summen – Dream-Popper, senkt die Augenlider. Verwaschene Tremolos weisen an den Höhepunkten der Songs in Richtung Shoegaze-Wonderland, und am Anfang fast jeder Nummer stehen lang ausgehaltene Reverb/Delay-Gitarren. In "Morning Doris" will der erste Akkord gar nicht mehr enden – per Hold-Effekt schaltet die Band ihn einfach auf Standby und bastelt sich so eine butterweiche Hintergrundtextur.
Wem Liegen und Träumen auf Dauer zu langweilig wird, freut sich, dass Berlin Syndrome die Tür zu tanzbarem Indie-Rock offen halten. Speziell Drummer Marvin Jimenéz lockert, zum Beispiel im Titeltrack, mit gelegentlich etwas flotteren Beats auf. Manchmal steckt er auch die Saitenmänner Robert Meinel, Marcel Behrens und Mathias Wagner an. Der Opener "Voices" mündet nach langem Schwelgen gen Ende in ein quirliges, hüpfendes Harmonie-Gespinst. Und Sänger Graeme Salt addiert Britpop – ob er das als gebürtiger Engländer beabsichtigt oder nicht, spielt im Endergebnis keine Rolle, zumal die Oasis-Vibes wirklich nur subtil durchklingen.
Zu kritisieren gibt es an "Sweet Harm" wenig, was zum Teil auch an mangelnder Risikofreude der Truppe liegt. Während die Songs an sich durch den erwähnten Stilmix und die so generierte Dramaturgie Langeweile vorbeugen, fehlt eine solche Dramaturgie dem Album als Gesamtwerk. So schön die entspannten Vocals Salts beim ersten, zweiten, dritten Song noch sind – etwas unspannend wird es eben trotzdem, wenn sich auch beim achten Stück kaum etwas daran ändert.
"Tomorrow I'm Back Again" hätte wohl in der ersten Albumhälfte noch richtig gut funktioniert. An neunter Stelle langweilt es jedoch, weil man all seine Bestandteile vorher schon gehört hat. Oft fehlt den Stücken einfach noch das bisschen Drive, das sie trotz untereinander ähnlicher Rezeptur hervorhebt. Wie das geht, zeigen Berlin Syndrome bei "Lemonade". Der Track besticht mit gleich mehreren authentischen Hooks, guter Songstruktur, stimmigem Arrangement und trockenem Charme à la Kings Of Leon.
Auf ihrem Debüt agieren Berlin Syndrome insgesamt zwar noch zu oft im Mittelfeld. Welches Potenzial aber in den aus Magdeburg, Berlin und Manchester stammenden Musikern schlummert, demonstrieren sie auf "Sweet Harm" allemal. Ein paar mehr Ausreißer nach oben hätte aus einem guten Album ohne echte Niete ein sehr gutes gemacht. Freunde melancholischer Tagträume begeistern sie vermutlich schon jetzt.
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