laut.de-Kritik
Soghafter 70s-Pop mit Father John Misty-Vibes.
Review von Michael Schuh"Europop", was für ein schöner, nostalgischer und bei Veröffentlichung Anfang Februar 2022 noch unbelasteter Albumtitel. Drei Wochen später ist die Welt eine andere und in Carl Schildes Titel ließe sich so einiges hinein interpretieren: Popmusik des demokratischen Europas, vertonte Sehnsucht nach der Überwindung menschenverachtender Ideologien, ein Album mitten aus der Heimat der Songzeile "Imagine all the people livin' life in peace".
Stattdessen spielt der ironisch gemeinte Albumtitel einerseits auf die Eurodance-Bewegung der 90er Jahre an, mit der Carl Schildes Musik natürlich nichts gemein hat, und auf die Tatsache, dass der gebürtige Berliner sie gar nicht in der alten Welt, sondern in Kanada aufgenommen hat. Dabei passt seine Musik perfekt zur politischen Interpretation des Titels. Sie ist tröstend und in positiver Weise einlullend, um der hämmernden Nachrichtenschlagzahl über die Ukraine-Krise kurzzeitig zu entkommen.
"Top 40" eröffnet "Europop" mit schläfrigen Beats, dann steigt Schilde auf sein Delay-Pedal und setzt mit zarten Gitarrenanschlägen den Ton für ein Album voll anästhetisch-soghaftem Soft-Pop. Seine sehr präsente, tiefe Stimme evoziert Father John Misty-Vibes, die den aus der Zeit gefallen Vintage-Sound angenehm ergänzen.
Schilde, in der Vergangenheit eher hinter den Kulissen umtriebig und etwa als Produzent für Werbeikone Friedrich Liechtenstein ("Bad Gastein") tätig, verarbeitet hier auch seinen erfolglosen Umzug nach L.A.: "We heard your record did well in Germany / and what worked there must surely work here / let's see if it melts in the California heat". Seine großen Pläne in der City Of Angels schmolzen dann tatsächlich unter der Sonne dahin und Schilde zog mit seiner Frau frustriert nach Toronto.
Seinem Entschluss, dort erstmals ein Soloalbum aufzunehmen, hat es nicht geschadet. L.A. ist musikalischer Referenzpunkt, entschleunigte Beach-Boys-Harmonien aus den 70er Jahren verbindet Schilde mit seinem Interesse an melancholischem Dozy Folk, den er spartanisch und mit hoher Wirkkraft inszeniert. Das Ergebnis ist homogen und zugleich facettenreich, als würde Sebastien Tellier zehn leicht variierende Versionen von 10ccs "I'm Not In Love" einspielen.
"Remember when the 80s still felt like the 70s?", fragt Schilde an einer Stelle. Wer diese Frage aus Altersgründen verneinen muss, findet in "Europop" eine mehr als befriedigende Antwort. Nur konsequent, dass das Staatsakt-Imprint Fun In The Church von vornerein auf eine CD-Produktion verzichtet hat. Motto: Kauft das Vinyl oder hört's halt auf dem Handy. Angesichts von 150.000 Streams für den Song "Top 40" fährt Schildes Label hier offenbar die richtige Strategie.
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